Tante Hilde und die Seelenpflege
Manchmal muss man ‘raus, sagt meine Tante Hilde. Nicht auf die Straße, nein. Manchmal muss man ‘raus aus sich selbst. Alles hinter sich lassen, was einen bedrückt, bedrängt, die Seele zuschnürt. Deswegen feiert sie Karneval, meine Tante Hilde. Ein bisschen auf der Straße, viel vor dem Fernseher, weil sie nicht mehr so gut zu Fuß ist. Ich muss dann mal ’raus aus meiner Welt, sagt Tante Hilde, damit ich meine Welt wieder besser ertrage. Sie setzt dann ein Mützchen auf, kauft sich ein paar Kreppel und kocht ihren stärksten Kaffee. Dann und wann gönnt sie sich ein Gläschen Likör, allein in ihrem Wohnzimmer oder mit der Freundin von gegenüber. Man erträgt das Leben besser, sagt Tante Hilde, wenn man es auch mal vergisst. Wenn man woanders hinschaut, in die Hände klatscht und lacht, bis einem die Tränen kommen. Tante Hilde ist ein Feierbiest, wie sie selber sagt. Aber nicht um des Feierns willen. Sondern um ihrer Seele willen.
Vor ein paar Tagen war sie bei der Altweiberfastnacht. Heute Nachmittag geht sie in ihre Kirchengemeinde zum Seniorennachmittag mit Kostümen. Und weil der Weg viel zu weit ist für ihre alten Füße, wird sie abgeholt. Zwei Stunden singen, lachen, schunkeln ist heute dran. Seit Tagen freut sich Tante Hilde darauf. Das Leben ist nicht zum Lachen, sagt sie. Aber manchmal muss man lachen, damit man das Leben wieder erträgt. Soll ich etwa in meinem Zimmer sitzen und trübsinnig werden? Nein, das passiert oft genug, sagt sie. Karneval gibt es ja, damit die Seele geputzt wird. Karneval ist ja ein richtiges Kirchenfest gewesen. Den hohen Herren mal die Meinung sagen. Den kleinen Mann und die kleine Frau endlich zu Wort kommen lassen. Da dürfen die mal auf den Tisch hauen, die sich das ganze Jahr so viel gefallen lassen. Man darf nicht alles schlucken, sagt Tante Hilde. Das will Gott nicht. Er will, dass ich mich beteilige, mich auch wehre. Möglichst mit Witz. Der Witz reinigt die Seele, sagt Tante Hilde. Wenn ich lache, gehen alle Fenster in meiner Seele auf. Und ich hoffe, dass Gott mit mir lacht.
Wer lacht, erträgt sich besser.