Der Beschwerdechor
Es gibt einen Frankfurter Chor, der dieses Motto hat: "Mit Lust den Frust verwursten." Er nennt sich „Beschwerdechor“. Denn die Sängerinnen und Sänger singen über das, was sie stört und belastet: die Klimaerwärmung, Fluglärm, über die politischen Absichten der AFD und vieles mehr. Aus Nörgeleien von Einzelnen wird ein vielstimmiges Lied. Was sonst trennend wirkt, kann so für einen Moment verbinden.
Beschwerdechöre - Es gibt sie in vielen Ländern
Mir war neu, dass es solche Beschwerdechöre in vielen Ländern gibt. Vor 20 Jahren ist der erste in Birmingham in England gegründet worden. Den Frankfurter gibt es seit 2009. Die Sängerinnen und Sänger bringen Themen mit, die sie belasten. Sie schreiben die Texte selbst, meist zu bekannten Melodien. Alle diskutieren engagiert über den Vorschlag und einigen sich, was gesungen werden soll. Über Humor kommen sie immer zu einer Lösung.
Die Tradition der Klage gibt es schon sehr lange
Dabei nimmt der Chor eine uralte Tradition neu auf – die Tradition der Klage. Die finde ich schon in der Bibel. Etwa in den Psalmen. Im Alten Testament stehen diese Gebete in Liedform. Sie spiegeln das pralle Leben wider: große Freude, aber auch tiefe Not. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ heißt es etwa in Psalm 22. Oder in Psalm13: „Wie lange noch, Gott, willst du mich vergessen?“
Klagen als Zeichen für eine lebendige Beziehung zu Gott
Die Klage ist kein Zeichen des Unglaubens, sondern Ausdruck einer lebendigen Beziehung zu Gott. Wer klagt, wendet sich nicht ab, sondern gerade hin zu Gott. Was im Frankfurter Beschwerdechor geschieht, kennen auch die Psalmen. Persönliche und gemeinschaftliche Not wird in Worte gefasst, öffentlich geteilt, gemeinschaftlich gesprochen oder gesungen.
Wer klagt, bleibt nicht in sich gefangen
In vielen Gottesdiensten heute beten die Menschen einen Psalm. Die Klage des einzelnen Menschen wird zum Teil eines Wir. So wie im Beschwerdechor: Meine Beschwerde oder Not sind nicht nur mein Problem – sie sind Teil eines größeren Ganzen. Wer klagt, bleibt nicht in sich gefangen. Und merkt vielleicht: Anderen geht es ähnlich. Klage kann befreiend wirken. Im Beschwerdechor lachen die Sängerinnen und Sänger am Ende oft über das, was sie zuvor bedrückt hat.
Auch in den Psalmen gibt es Klagen
In den Psalmen geschieht auch das: Die Klage wird verwandelt. Viele Klagelieder enden mit einem Zeichen der Zuversicht. Nicht, weil das Problem gelöst wäre, sondern weil im Klagen selbst schon Hoffnung wächst. In einem Psalm heißt es: „Du, Gott, hast mein Klagelied in einen Freudentanz verwandelt“ (Psalm 30,12). Für mich ist Klagen ein Tor zur Hoffnung. Beim Chorgesang und im Gottesdienst. Es sind Orte, an dem wir nicht die Zähne zusammenbeißen und so tun, als sei alles in Ordnung. Sondern wo Menschen gemeinsam ihre Not aussprechen und darauf vertrauen, dass sich ihre Not wendet.