Unerhörte Frauen
Männer, Männer und nochmals Männer. Wenn ich an meinen Geschichtsunterricht in der Schule denke, dann fällt mir auf: Es ging fast nur um Männer, um Könige, Feldherren, Gelehrte, Entdecker, Unternehmer. Geschichte, so schien es, ist eine Abfolge von bedeutenden Ereignissen, die von herausragenden Persönlichkeiten geprägt wurde – und das waren eben Männern. Später, im Theologiestudium habe mich auch mit der Geschichte des Christentums und der Kirche beschäftigt. Und auch da sind mir viele Männer begegnet: Päpste, Bischöfe, Mönche, Theologen. In der Kirche haben eben Männer das Sagen, in Vergangenheit noch mehr als heute.
Sie kommen wirklich zu Wort
Vor kurzem habe ich ein Buch gelesen, das zeigt: Ganz so einfach ist das nicht. „Unerhörte Frauen“ heißt es, zwei Wissenschaftlerinnen haben mehrere norddeutsche Frauenklöster im Spätmittealter unter die Lupe genommen, also im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. „Unerhört“ sind diese Frauen, weil sie ein ungewöhnliches Leben führten. Und „unerhört“ sind sie, weil ihre Stimmen lange nicht gehört wurde.
Das Besondere an dem Buch ist: Die Autorinnen schauen wirklich in das Innere der Klöster. Sie erzählen ganz konkret vom Leben dort. Wie der Tagesablauf aussah, wie die Nonnen gebetet und was sie gegessen haben und wie sie ihre Konflikte geregelt haben. Und das Besondere ist auch: Die Frauen kommen wirklich selbst zu Wort – die Autorinnen zitieren ausführlich aus Briefe und Schriften, in denen die Schwestern von ihrem Leben im Kloster berichten.
Ein wichtiger Dienst für die Gemeinschaft
Eines wird dabei deutlich: Das Leben im Kloster war sehr attraktiv. Die Nonnen waren hochangesehen, ihre Hauptaufgabe war das Gebet – in einer Gesellschaft, in der die Sorge um das Seelenheil von größter Bedeutung war, war das ein wichtiger Dienst für die Gemeinschaft.
Ihr Leben hinter den Klostermauern regelten die Nonnen ganz selbstbestimmt. Ein Kloster war auch ein großer Betrieb, die Leiterin des Klosters zugleich die Chefin zahlreicher Mitarbeiter. Die Nonnen verteidigten immer wieder ihren Besitz – und damit ihre Eigenständigkeit. Auch in geistlichen Dingen ließen sie sich nicht ohne weiteres dreinreden. Als mit Beginn der Reformation der Landesfürst die Klöster auflösen wollte, verteidigten die Nonnen ihre Lebensweise und verhandelten zäh über alle Neuerungen. Sie diskutierten theologische Fragen und beschwerten sich schon mal über einen Prediger, der ihnen zu dumm war. Die Nonnen hatten alle eine anspruchsvolle Ausbildung durchlaufen, die Gelehrtensprache Latein gelernt. Es gehörte dazu, theologische Werke zu lesen und selbst zur Feder zu greifen. Die Bildung machte die Nonnen selbstbewusst und unabhängig.
Auch ganz normale Nonnen
Völlig aus der Welt waren sie dabei nicht: Viele haben weiter den Kontakt zu ihren Familien gepflegt. Die Nonnen sind gefragte Briefpartnerinnen gewesen, haben Trost gespendet, Ratschläge gegeben und so auch außerhalb des Klosters gewirkt.
Mir macht die Geschichte dieser Frauen auch Mut, gerade wenn es um die Rolle von Frauen in der katholischen Kirche geht. Sie zeigt: Geschichte, Kirchengeschichte zumal, ist keine Männergeschichte. Frauen haben sich Freiräume verschafft und diese verteidigt – in einer Männerwelt, in einer Männerkirche. Sie haben ein unabhängiges Leben geführt und mit ihren Mitteln Einfluss genommen. Und das taten nicht nur herausragende Ausnahmefiguren, sondern auch ganz normale Nonnen.
Es ist also gar nichts Neues: Frauen reden in der Kirche mit, gestalten und bestimmen mit. Und trotzdem und erst recht ein Anspruch und eine Forderung für heute.
Henrike Lähnemann / Eva Schlotheuber: Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter. Propyläen Verlag 2023.