Die heilige Odilia
Hoch über dem Rheintal im Norden des Elsass erhebt sich der Odilienberg. Auf seiner Spitze thront weithin sichtbar ein kleines Kloster. Es ist der hl. Odilia geweiht. Heute ist ihr Gedenktag.
Odilia lebte um das Jahr 700. Sie war die Tochter des fränkischen Herzogs Eticho. Um sie rankt sich ein Strauß von Legenden. Eine berichtet, Odilia sei blind geboren worden. Ihr Vater habe sie deswegen töten lassen wollen. Um das Kind zu retten, gab ihre Mutter das kleine Mädchen zur Erziehung in ein Kloster. Mit 12 Jahren wurde Odilia getauft. Dabei wurde sie sehend, die Legende weiter.
Generationenkonflikte
Eine wichtige Rolle spielt auch in den weiteren Legenden Herzog Eticho, Odilias Vater. Offenbar besteht zwischen beiden ein besonders schwieriges Beziehungsgeflecht: Auch nach ihrer Heilung bestehen die Spannungen fort. Sie führen zu einem heftigen Streit zwischen Vater und Sohn, dem Bruder Odilias. Odilia muss erneut vor dem Vater fliehen. Nach der Versöhnung wieder ein Konflikt: Der Vater will Odilia standesgemäß verheiraten, sie aber hat sich für ein geistliches Leben im Kloster entschieden.
Wer von beiden - Vater oder Tochter - ist eigentlich blind? Die Odilia-Legende drängt diese Frage auf. Tatsächlich entsteht der Eindruck, dass der Vater zeitlebens nicht den richtigen Blick auf und für seine Tochter hat. Er möchte bestimmen, was und wie sie ist und lebt, nur mit großer Mühe respektiert er ihre Eigenständigkeit. Die Legende beschreibt ein offenbar überzeitliches Problem. Wie stehen Eltern zu ihren Kindern? Kann ich akzeptieren, wenn und dass mein Sohn, meine Tochter nicht so ist, wie ich das für "richtig" halte, dass sie oder er nicht den Weg gehen, die Lebensentscheidungen treffen, die ich für richtig und angemessen halte?
Versöhnung
Schließlich hat Herzog Eticho seiner Tochter nachgegeben. Er schenkt ihr Schloss Hohenburg bei Obernai. Dort gründet Odilia ihr Kloster, den heutigen Odilienberg, den heiligen Berg des Elsass.
Auf dem Plateau des Odilienbergs erheben sich hinter Kloster und Wallfahrtskirche zwei kleine Kapellen. Die eine davon heißt Zährenkapelle. Zähren wird abgeleitet von einem alten Wort für Tränen. Odilia soll hier viele Tränen um ihren Vater und sein Wohlergehen geweint haben.
Odilia bricht den Kontakt zu ihrem Vater nicht ab. Trotz allem, was sie an Unverständnis, an Intoleranz von ihm erfahren hat. Odilia gibt nicht nach. Sie ist eine starke Frau. Aber sie lässt ihren Vater auch nicht fallen, sie ringt um ihn, immer wieder, weint Tränen um ihn.
Dranbleiben lohnt sich
Andere nicht "abhaken", nicht "fertig sein" mit jemandem. Die Odilien-Legende schildert das als Konzept für ein gelingendes Leben. Ob es auch heute Gültigkeit hat? Ich werde Odilias Gedenktag zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken. Und auch darüber, wo womöglich bei mir blinde Flecken sind, wo ich gerne andere bestimmen möchte so zu sein oder zu handeln, wie ich das gerne hätte. Das gibt es nicht nur in der Familie, sondern genauso am Arbeitsplatz, im Betrieb oder in der Schule.