Zu Rissen und Brüchen im Leben stehen können
Ein Mann erzählt, wie er nach langer psychischer Krankheit wieder den Weg zurück ins Leben gefunden hat. Er hatte Depressionen gehabt und nicht mehr gewusst, wie sein Leben weitergehen sollte. Alles schien sinnlos. Zum Glück, erzählt er, haben ihm Familie und Freunde Mut gemacht, in eine Klinik zu gehen. Ohne sie hätte er das nicht geschafft. Mit das Schwerste war, dass andere sich gar nicht vorstellen konnten, wie schlecht es ihm ging. Was, der? Der ist doch immer gut drauf, der ist doch immer so freundlich und zugewandt?! Der soll Depressionen haben? Nach außen war ihm nichts anzumerken.
Heute geht es ihm besser. Er kann seine Krankheit akzeptieren und weiß nun sehr viel besser, was ihm guttut und was nicht. Und er kann dazu stehen, öfters mal nein zu sagen und damit einen anderen vor den Kopf zu stoßen. Ich muss meine Not nicht mehr verstecken, sagt er. Das ist das Wichtigste.
Viele Menschen kennen solche Nöte. Etwas ist misslungen, fehlgeschlagen oder nicht in Erfüllung gegangen. Das kann durch eine ärztliche Diagnose geschehen, eine Krankheit, die einen zwingt, mit einem anderen Blick auf das Leben zu schauen. Manchmal ist es auch der Tod eines nahen Angehörigen, der einen aus der Bahn wirft. Nichts ist mehr so wie es vorher war. Alles schein ein Scherbenhaufen.
Der evangelische Theologe Henning Luther hat dafür eine Metapher geprägt, die bis heute Menschen anspricht. Er nennt das Leben als ein Fragment. Das Wort Fragment kommt aus dem lateinischen. Es bedeutet „brechen“. Ein Fragment ist etwas Abgebrochenes, etwas Unvollendetes.
Das Leben als Fragment. Henning Luther schreibt: „wir sind immer Ruinen unserer Vergangenheit, Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenschancen.“ Er richtet seinen Blick auf die Lebensbrüche, auf das, was nicht glatt ist oder glatt läuft. Ist das nicht hart, ja fast erbarmungslos?
Ja, aber nicht nur. Für mich ist es auch eine Entlastung von dem Druck, dass alles gut sein und glatt laufen muss. Vollkommenheit ist ein Mythos, sagt Henning Luther. Es ist nicht wahr, dass das Leben nur dann gelungen ist, wenn es heil und unverletzt war. Schmerzen, ob seelische oder körperliche Schmerzen, gehören zu unserem Leben dazu. Das ist manchmal schwer auszuhalten.
Welche Erleichterung dagegen, die eigene Not nicht mehr verstecken zu müssen! Das kann erleichternd sein. Sie endlich auszusprechen. Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte, dass du mein Elend ansiehst und kennst die Not meiner Seele, so heißt es in Palm 31. Dieser Mensch bringt seine Not vor Gott. Er fühlt sich mit ihr gesehen und wahrgenommen.
Mir hat der Mut des Mannes imponiert, der so offen über seine seelische Not gesprochen hat. Er konnte dazu stehen, dass sein Leben Brüche hat und er versehrt ist. „Ich muss meine Not nicht mehr verstecken.“ Diese hoffnungsvollen Worte sind bei mir hängen geblieben. Zu den eigenen Brüchen und Rissen im Leben zu stehen, darin liegt eine große Kraft.