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Helms, Anne-Katrin

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad

Tag der grundlosen Nettigkeiten

Tag der grundlosen Nettigkeiten

Am Anfang habe ich immer nur das Lied auf der Straße gehört. Ich kannte es nicht. Nach ein paar Tagen war meine Neugierde zu groß: wer singt da morgens um Viertel nach sieben ein Lied mitten auf der Straße? Ich schaute aus dem Fenster und sah folgendes:

Ein Mann, augenscheinlich ein Japaner, nicht mehr ganz jung, fährt mit einem kleinen Schulbus vor. Im Bus sitzen schon ein paar Kinder. Von der Straße oberhalb der Kreuzung kommt eine Mutter mit ihrem Sohn. Der Junge hat wohl Down-Syndrom. Er klammert sich an seine Mutter und versteckt sich hinter ihr. Die Mutter aber schiebt ihn freundlich, aber bestimmt zu dem Schulbus.

Dort ist mittlerweile der Busfahrer ausgestiegen. Er ist von seinem Fahrersitz gestiegen und um den Bus herumgegangen. Er öffnet die Beifahrertür. Dort versteckt er sich so hinter der offenen Tür, dass der Junge ihn für kurze Zeit nicht mehr sehen kann. Dann öffnet sich das Seitenfenster. Ganz langsam schiebt sich der Kopf des Fahrers nach oben durch das Fenster hindurch. Jetzt beginnt der Mann zu singen. Es ist eine lustige Melodie. Und es ist jeden Morgen dieselbe.

Da lacht der Junge, löst sich von seiner Mutter, wirft ihr einen Handkuss zu und läuft zum Bus. Er steigt ohne Zögern ein. Der Fahrer schließt die Tür und kehrt zu seinem Fahrersitz zurück. Die Mutter winkt glücklich und dankbar. Wieder einmal ist es geschafft.

Viele Morgen habe ich den Beiden schon zugeschaut. Es ist rührend. Ich weiß gar nicht, ob der Mann und der Junge eine gemeinsame Sprache haben. Es sieht so aus, als wenn sich diese Szene ohne Absprache entwickelt hätte. Einfach, weil der Busfahrer gemerkt hat: da ist ein Kind, das es nicht leicht hat. Es braucht ein wenig Hilfe, um sich von der Mutter zu trennen.

Er hätte auch auf seinem Fahrersitz bleiben, mit den Fingern entnervt auf das Lenkrad trommeln und mit hochgezogenen Augenbrauen der Mutter zu verstehen geben können, dass er keine Lust hat, jeden Morgen das Theater zu erleben, bis sich der Junge endlich getraut, einzusteigen. Mir gefällt das irre gut. Der Busfahrer steckt mit seiner Freundlichkeit andere an.

Wenn Menschen zueinander freundlich sind, ist das wunderbar. Leicht fällt sie uns nicht. Was Menschenfreundlichkeit bedeutet, kann ich bei Gott lernen. Er entzieht sie uns nie. Er will, dass sie tief in unser Herz fällt. Sein Segen für uns heißt: „Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.“ (Num 6,25) Das meint nichts anderes als: Gott schaut dich freundlich an. Ganz ohne Berechnung tut er das. Aber anstecken möchte er uns schon. Wer Gottes Freundlichkeit annimmt, kann sie weiterschenken. Dann kann sie die Seele aufhellen und die Spannung aus einer gereizten Atmosphäre nehmen. Sie kann eine verfahrene Situation entschärfen und entgiften. Sie kann etwas Schweres leicht machen, ohne oberflächlich zu werden: durch ein Wort, eine Geste, einen Gruß, einen Besuch. Oder eben durch ein Lied an der Tür des Schulbusses.