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Spory, Dr. Anke

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Bad Homburg-Gonzenheim

Sich mitfreuen am Wachsen anderer

Sich mitfreuen am Wachsen anderer

"Die beiden haben uns die Show gestohlen." das erzählt mir eine Mutter. Sie hat gelacht und gesagt: "Das ist aber auch in Ordnung. So soll es sein." Die beiden, das sind ihr Sohn und sein Freund. Beide leidenschaftliche Specksteinschleifer. Gemeinsam mit der Mutter und anderen Frauen organisieren sie eine Ausstellung. Die Mütter zeigen ihre Ölbilder, die Jungs stellen ihre Specksteinarbeiten vor. Und, so erzählt es die Mutter: Alle Besucher gingen zuerst zu den Specksteinarbeiten, betrachten sie, fassten sie an… Die Bilder? Wurden auch angeschaut, klar, aber die Specksteinarbeiten standen im Mittelpunkt. „Die beiden haben uns die Show gestohlen. Das ist aber auch in Ordnung…..“

Manche Menschen können das. Sie können sich mitfreuen am Wachsen anderer, sie können einem anderen den ersten Platz gönnen und sich selbst in die zweite Reihe stellen. Das Johannesevangelium erzählt von so einem Menschen. Johannes der Täufer ist ein Zeitgenosse von Jesus. Genau wie Jesus hat er Jünger um sich versammelt, die hören wollen, was er sagt. Genau wie Jesus tauft Johannes Menschen im Jordan. Es ist eine klassische Konkurrenzsituation, die das Johannesevangelium erzählt. Wer tauft mehr? Wer findet die besseren Worte?

Offensichtlich gibt es andere, die versuchen, die beiden gegeneinander aufzustacheln. Hast du es noch nicht mitbekommen, sagen sie zu Johannes? Jesus hat viel mehr Zulauf, zu ihm kommen mehr Menschen als zu dir?

Johannes der Täufer lässt sich nicht provozieren. Stattdessen zeigt er Größe und nimmt sich selbst zurück. Er kann anerkennen: Jesus ist wichtiger als ich, er ist entscheidender. Er richtet sein Tun darauf aus, Jesus den Weg zu bereiten. Jesus muss wachsen, ich aber muss abnehmen, so sagt es Johannes der Täufer.

Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen. Für mich sagt dieser Vers: Wenn wir uns am Wachsen anderer freuen können, dann ist das ein Zeichen innerer Freiheit. Dann bin ich frei von dem Zwang, der Beste zu sein. Dann kann ich neidlos anerkennen: der andere steht in der ersten Reihe!

Wer sich am Wachsen anderer mit freut, zeigt auch: ich bin verwurzelt. Ich weiß, wer ich bin, ich weiß was ich kann und ich weiß, wohin ich gehöre. Das zu wissen ist ein Zeichen innerer Freiheit. Weil es zeigt: weiß: Es geht nicht darum, der erste oder der Beste zu sein. Weil es befreit: Von dem großen Druck, immer in der ersten Reihe zu stehen zu müssen.

„Die beiden Jungs haben uns die Show gestohlen. Und das ist in Ordnung so,“ das hat die Mutter gesagt. Diese Haltung imponiert mir. Sie konnte neidlos anerkennen: die Specksteinarbeiten der Jungs bekommen mehr Aufmerksamkeit als meine eigenen Bilder. Das nenne ich wahre Größe, das ist innere Freiheit.