Mehr sehen als der Augenschein
Es gibt Menschen, die öffnen anderen die Augen, auch wenn sie selbst nicht sehen können. Louis Braille hatte die Blindenschrift erfunden, in dieser Woche vor etwas mehr als zweihundert Jahren wurde er nahe Paris geboren. Als Kind spielte er in der Sattlerwerkstatt seines Vaters. Er verletzte sich mit dem spitzen Werkzeug am Auge. Es entzündete sich und infizierte auch das andere Auge. Mit fünf Jahren war er erblindet. Doch der junge Franzose wollte sich mit seinem Schicksal nicht abfinden. Er muss etwas gehabt haben, was ein Biograf „dieses lächelnde Träumen“ nannte.
Jahrzehnte tüftelte er an einer Schrift für Blinde und übernahm Anregungen und Ideen anderer. Seine Blindenschrift, die nach ihm Braille-Schrift heißt, basiert auf sechs Punkten: drei in der Höhe und jeweils zwei nebeneinander. Insgesamt vierundsechzig Kombinationen sind so möglich, um Buchstaben, Zahlen und Zeichen darzustellen. Inzwischen gibt es vom Strickmuster bis zur Computertastatur vieles in Braille-Schrift, auch die Bibel.
Ich habe erlebt, wie ein junger Pastor aus einer solchen Bibel in Braille-Schrift gelesen hat. Ich war ein dreizehnjähriger Konfirmand. Mein Pastor war blind und hatte mit Ausdauer und großem Fleiß die Blindenschrift gelernt.
Bis heute erinnere ich mich, wie er mit einem strahlenden Gesicht mir die biblischen Texte vorlas. Seine Fingerkuppen flitzten über die Seiten. Plötzlich hielt er inne und erzählte mir etwas von der Menschenfreundlichkeit und Güte Gottes. Er spornte mich an, genau diese Güte hinter und in der biblischen Geschichte zu suchen. Der blinde Pastor öffnete mir die Augen für Gott und die Menschen um mich herum. Das hat meine Sicht der Welt bis heute geändert.
Doch auch heute noch passiert es, dass ich nur den Vordergrund sehe. Dass ich mich hin und wieder vom Augenschein blenden lasse. Ich bin froh, wenn es mir dann manchmal gelingt, inne zu halten. Damit ich nicht vorschnell reagiere, sondern nachfrage. Und vorher, bevor ich antworte, mir im Stillen überlege, wie wohl Jesus reagiert hätte.
An der Kirchentür habe ich das mal so erlebt: Ich stand da, um mich nach dem Gottesdienst zu verabschieden. Ich möchte einem älteren Mann nur kurz die Hand schütteln, doch er hält die meine fest und macht seinem Ärger über den miesen und mickrigen Gesang beim Gottesdienst Luft. Ich halte die Luft an, möchte ärgerlich reagieren. Da platzt es förmlich aus ihm heraus. Er schüttet mir unverhofft sein Herz aus. Auf einmal kann ich nachvollziehen, was ihn beschäftigt und wie sehr er darunter leidet, selber nach einer Krebsoperation an den Stimmbändern nicht mehr singen zu können. Viele Jahre hatte er den Kirchenchor in der Nachbargemeinde geleitet, doch nun reicht es zwar noch zum Reden, aber seine Stimme taugt nicht mehr zum Singen. Wie sehr er darunter leidet. Meine vorschnelle Antwort hätte ihn verletzt, zumindest gekränkt.
Innehalten, zuhören, nachfragen und die Geschichte hinter der Geschichte zu entdecken, dazu hat mich mein Pastor damals immer wieder ermutigt. Bis heute bin ich dabei, es zu lernen.