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Helms, Anne-Katrin

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad

Lesen und Schreiben lernen

Lesen und Schreiben lernen

Seit September wohnt eine junge Eritreerin bei uns. Als sie zu uns kam, war sie Analphabetin. Sie konnte weder in Tigrinya, ihrer Heimatsprache, noch in Deutsch, lesen und schreiben. Sie ist in einem Dorf aufgewachsen, in dem es kein fließendes Wasser gab und auch nur selten Strom. Die Schule war weit weg. Da hatte sie keine Chance, hinzukommen.

Sie ist vor dem schrecklichen Gewaltregime geflohen und hat sich nach Deutschland durchgeschlagen. Hier hat sie die ersten Monate mit anderen Frauen aus Eritrea zusammengelebt. Deutsch hat sie in dieser Zeit nicht gelernt.

Da wir ihre Sprache nicht sprechen, waren die erste gemeinsame Zeit aufregend. Es gab lauter Missverständnisse. Wir halfen uns mit Zeichensprache. Aber wenn es um Gefühle geht, führen Gesten nicht zum Ziel. Auch für genaue Absprachen reicht es nicht, mit Händen und Füßen zu sprechen. Zum Glück hat die junge Frau aus Eritrea die wunderbare Gabe, über sich selbst zu lachen. Und das haben wir ausgiebig gemacht!

Acht Frauen aus unserer Kirchengemeinde kamen regelmäßig, um ihr Lesen und Schreiben beizubringen. Wie in der ersten Klasse einer Grundschule lernte sie einen Stift zu halten und zu führen. Dann kamen die einzelnen Buchstaben unseres Alphabets dran. Mit jedem Buchstaben eröffneten sich für die junge Frau Welten.

Eines Morgens kam sie zu mir und reichte mir ihre Flasche mit Dusch-Gel. „Guck mal: hier auf der Flasche steht: Dusch-Gel. Und drin: auch Dusch-Gel!“ Sie war ganz aufgeregt. Ich sagte: „Das ist bei fast allen Dingen so: Es steht drauf, was drin ist!“ Sie schaute mich mit großen Augen an.

Ein paar Tage später sah ich, wie sie auf einen Zettel etwas schrieb: Milch, Eier, Brot, Tomate. „Was schreibst du?“ fragte ich sie. „Eine Liste! Ab jetzt“, und sie klopfte mit ihren Fingern an ihren Kopf „ich muss nicht alles merken im Kopf. Ich kann schreiben.“

Tag für Tag dringt sie tiefer in eine neue Welt ein, indem sie liest und schreibt. Mitteilungen auf whatsapp, Nachrichten im Computer, beim Einkaufen und beim Zurechtfinden in der Stadt. Wir können uns Botschaften hinterlassen, wenn wir uns verpassen. „Ein neues Leben hat begonnen“, sagt sie.

Ich musste an das Zitat von Martin Luther denken, als er auf einmal verstand, was Gott ihm durch die Bibel sagen wollte: „Nun fühlte ich mich ganz und gar neu geboren und durch die offene Pforte in das Paradies eingetreten!“ Ich verstehe das jetzt besser: wenn ich auf einmal den Schlüssel zu einer bis dahin verschlossenen Tür gefunden habe, und dahinter geht’s in die Freiheit – das ist wie der Himmel auf Erden.

Ich freue mich wahnsinnig für unsere junge Frau aus Eritrea. Im Jahr 2017 mitten in Deutschland führt Lesen und Schreiben einen Menschen ins Paradies. Großartig!