Fotografin
Wie oft geht es mir so, dass ich tausend Dinge gleichzeitig mache, aber mich auf das Eine, das Wichtige, gar nicht mehr richtig konzentriere. Vielleicht ist mir deshalb die Fotografin aufgefallen, die bei einer Vernissage Bilder für die Zeitung schoss. Gespannt wie ein Flitzebogen stand sie auf der anderen Seite des Saals. Sie wartete darauf, dass die Rednerin endlich von ihrem Manuskript hochschaute. Genau in dem Moment wollte sie ein Foto von ihr machen. Die Kamera hat sie in der linken Hand, den Zeigefinger der rechten Hand am Auslöser. Endlich! Die Rednerin hebt die Augen und schaut ins Publikum. Klack, Klack, Klack, die Kamera löst aus.
Mich fasziniert die Haltung der Fotografin. Es ist eine Freude, sie anzusehen. Sie steht ganz gespannt und ruht doch in sich. Es wirkt, als habe sie unendlich viel Zeit. Ganz und gar auf ihr Gegenüber gerichtet, entgeht ihr kein Wimpernschlag. Sie kann warten, bis der Moment da ist, den sie braucht.
Ich dagegen habe oft vieles gleichzeitig im Sinn. Dabei entgeht mir der rechte Augenblick, mein Ziel zu erreichen. Oft widme ich mich allem Möglichen gleichzeitig, auch vielen Menschen gleichzeitig. Dabei gerate ich in die Gefahr, den einen, der mich braucht, nicht gerecht zu werden.
Der Grund dafür ist: Ich versuche, möglichst viel in einer bestimmten Zeit zu erledigen. „Meine Zeit ist knapp“ sage ich dann. Das ist eigentlich lustig, denn die Zeit bliebt immer gleich. Nur stecke ich immer mehr hinein. Die mangelnde Zeit ist also nicht mein Problem, sondern mein Umgang mit ihr.
Der Zeitforscher Karlheinz Geißler unterscheidet zwischen „Rhythmus“ und „Takt“: unser Körper hat einen eigenen Rhythmus. Er wiederholt immer wieder Dinge, aber mit Abweichungen. Zum Beispiel: wenn ich mir keinen Wecker stelle, wache ich trotzdem fast immer ungefähr um halb sieben auf. Aber eben ungefähr. Mal ist es kurz vor halb sieben, mal ein paar Minuten danach. „Die Uhr drängt einem ein anderes Muster der Zeitorganisation auf: nämlich den Takt. … Der Takt ist eine Wiederholung ohne Abweichung. Eine Uhr muss taktförmig genau präzise 60 Sekunden haben für eine Minute. … Der Takt läuft unserer Natur zuwider,“ sagt Karlheinz Geißler.
In meinem Arbeitsalltag kann ich ohne Uhr nicht leben. Ich muss mich verabreden und Verabredungen einhalten. Ich muss fristgerecht meine Arbeitsaufträge abliefern. Aber mir ist bewusst geworden, dass ich neben dem Einhalten von Uhrzeiten immer mal wieder vom „Takt“ auf „Rhythmus“ umschalten muss. Wahrscheinlich gibt es dann mehr Pausen in meinem Tag. Pausen zum Ausruhen und Pausen, um den rechten Augenblick zu erwischen.
Die Bibel unterscheidet auch zwischen messbarer Zeit, dem Chronos, und der Zeit Gottes, dem Kairos. Für die messbare Zeit gibt’s den Chronometer. Für den Kairos brauche ich Geistesgegenwart. Die wünsche ich mir. Und Ihnen.