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Helms, Anne-Katrin

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad

Demut

Demut

Zwischen den Jahren haben wir meine alte Freundin aus Kindertagen besucht. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Sie und ihr Mann sind Ärzte. Während sie eine vergleichsweise harmlose Aufgabe in der Klinik hat, ist er Neurochirurg und operiert überwiegend junge Menschen und Babys, um sie von Epilepsie zu heilen.

Er erzählte, wie kompliziert die Operationen am Gehirn sind. „Keine Operation gleicht der anderen. Ganz selten sind die chirurgischen Eingriffe so, wie ich es im Lehrbuch gelernt habe. Immer wieder komme ich an einen Punkt, wo ich mich entscheiden muss: Mache ich weiter und gehe ich bis hart an die Grenze? Oder höre ich auf aus Sorge, etwas im Gehirn kaputt zu machen? Immer in dem Bewusstsein: an mir liegt es in diesem Moment, ob dieses Kind eine Chance hat, gesund zu werden oder nicht.“

Und wir fragten: „Ist dir schon mal passiert, dass du eine falsche Entscheidung getroffen hast?“ „Eigentlich nein“, antwortete er. „Aber ich habe neulich eine OP abgebrochen. Ich wurde irgendwie unsicher. Es war mir einfach zu gefährlich. Im Nachhinein hat sich herausgestellt: Ich hätte weiter operieren können. Meine Entscheidung, zu unterbrechen, war vielleicht ein Fehler.“ Seine Frau unterbrach ihn: „Ich finde, du hast richtig entschieden. Zum Aufhören gehört viel Demut!“

Das Wort „Demut“ an dieser Stelle hat mich überrascht. Es hat mir gut gefallen. Es ist wahr: Selbstbewusst einschätzen, was ich kann. Aber nicht vergessen, dass ich fehlbar bin. Mich nicht für Gott halten – auch nicht für einen „Halbgott in weiß“. Immer wieder auf den Boden zurückkommen. Und dort meine Position kennen zwischen Himmel und Erde. Das alles ist Demut.

Jesus sagt: „Lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen!“ (Mt 11,29) Demütig sein ist eine Herzensangelegenheit. Wer demütig ist, der hält sich nicht selber für den Größten. Er weiß einen über sich, der ihn begabt und beschenkt hat und dem er verantwortlich ist. Deshalb handelt der Demütige auch nicht nach Schema F. Er setzt nicht als erstes seine Gesetze und Prinzipien durch, sondern schaut dem Anderen ins Herz und überlegt, was für ihn das Beste ist.

Bei Jesus war das so: er ließ Menschen Ähren auf dem Feld sammeln an Tagen, an denen das verboten war. Er heilte Menschen von ihren Krankheiten auch am Sabbat, obwohl das eigentlich nicht ging. Selbstverständlich kannte er die Regeln. Es war ihm auch klar, dass er selbst dafür Ärger bekommen könnte. Aber er wusste, dass Gesetze für Menschen da sind und nicht umgekehrt. Ihm war das Heil der Menschen wichtiger als das eigene Fortkommen.

Der Mann meiner Freundin ist nicht Jesus. Er hat auch keine Gesetze gebrochen. Aber er hat sich tapfer der möglichen Kritik seiner Kollegen ausgesetzt. Ihm war das Wohlergehen des Patienten wichtiger, als selber der Größte zu sein. Ich finde, da gehören viel Mut und viel Demut dazu. In seinem Arbeiten zeigt er, dass er weiß, wer er ist: voller Würde und mit großem Wert ist er ein Kind Gottes.