Unverdient gut
Wenn er gefragt wird, wie es ihm geht, gibt er fast immer die gleiche Antwort: „Unverdient gut!“ Manchmal widerspreche ich. Sage: „So ganz ohne dein Zutun ist das nicht. Du hast doch auch deinen Teil dazu beigetragen. Du warst fleißig, hast dich gesund ernährt, warst freundlich zu deinen Mitmenschen …“ Aber er lässt das nicht gelten und bleibt bei seinem „unverdient gut.“ Inzwischen ist er 91 Jahre alt und blickt auf eine lange Zeitspanne zurück. Nicht immer war sein Leben leicht. Als er achtzehn war, haben sie ihn in den Krieg eingezogen. Einen Jungen vom Dorf, der nichts wusste von der Welt. Er ist unversehrt wieder nach Hause gekommen. Hat später hart gearbeitet, sich abgerackert, um seinen kleinen Handwerksbetrieb hochzubringen. Darauf ist er stolz und sieht es trotzdem nicht als eigenen Verdienst. „Alle guten Gaben, alles was wir haben, kommt o Gott von dir. Wir danken dir dafür.“ So betet er vor jeder Mahlzeit. Und wer ihn kennt weiß: Damit dankt er nicht nur für das Brot und die Wurst auf seinem Teller. Sein ganzes Leben sieht er als gute Gabe Gottes. Als unverdientes Geschenk.
In unserer Nachbarschaft lebt eine Flüchtlingsfamilie. Eine Mutter mit vier Kindern. Sie sind über den Landweg aus dem Iran geflohen. Allein, ohne den Vater. Das Deutschlernen fällt ihr schwer. „Mein Kopf ist kaputt“, sagt sie und meint wohl: Da ist zu viel anderes drin, da ist - noch - kein Platz für neue Wörter. Ich weiß nicht viel von ihrer Geschichte. Aber ihr Leben war so in Gefahr, die Lebensumstände für die Familie so unerträglich, dass sie geflohen sind. Hat sie das verdient? Dass sie alles zurücklassen musste, was sie sich aufgebaut hat? Ihr Haus und ihren Besitz, ihre Familie, ihre Kultur, ihr Land?
Sie ist eine starke, unglaublich mutige und couragierte Frau. Sie setzt alles daran, dass ihre Kinder eine gute Zukunft haben. Was sie verdient hat, ist unsere Hochachtung und unser Mitgefühl. Und die demütige Einsicht des alten Mannes: Es ist unverdient, dass es uns so gut geht und vielen anderen Menschen so schlecht. Unverdient auf beiden Seiten.
Der erste Asylantrag wurde vor einigen Wochen abgelehnt mit der Begründung, dass sie über einen sicheren Drittstaat eingereist sind. Haben sie das verdient, nach all den Strapazen und Ängsten? Habe ich es verdient, dass ich in einem reichen Land geboren bin, in einer Demokratie, in der seit über 70 Jahren kein Krieg ist? Wo Frauen gleichberechtigt sind, wo ich meine Meinung frei äußeren kann? Vor einigen Tagen kam nun endlich die erlösende die Nachricht: Sie dürfen bleiben! Ich finde: Das haben sie verdient und freue mich mit ihnen.