hr2 ZUSPRUCH
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Eine Sendung von

Pastor evangelische Freikirche

Wer weiß, wer ich bin?

Heute vor 70 Jahren begann die Flucht von Millionen Deutschen aus Ostpreußen, später dann aus Schlesien und Pommern. Hals über Kopf flohen die Menschen in panischer Furcht vor dem Feind, geschürt von jahrelanger Hasspropaganda der Nationalsozialisten.

Ich erinnere mich noch gut an die Plakate des Suchdienstes des Roten Kreuzes mit Bildern kleiner Kinder. Sie hingen bis in die sechziger und siebziger Jahre zum Beispiel an Bahnhöfen. Also nicht nur direkt nach dem Krieg. Noch Jahrzehnte danach versuchte man so, Angehörige von Kindern zu finden, die auf der Flucht verloren gegangen waren. Auf den Plakaten stand: „Wer kennt meinen Namen?“ Dazu ein paar dürftige Angaben: „Der etwa dreijährige Junge wurde auf dem Bahnhof von Stettin aufgefunden. Er trug einen grauen Mantel und einen gelben Pullover“. Ein paar Bilder weiter heißt es: „Das Mädchen, dessen Vornahme Erika oder Erna sein könnte, wurde am 1. März 1945 in einem Bauernhof in Vorpommern aufgegriffen. Es trug eine rote Mütze. Es könnte mit einem Transport aus Danzig in den Westen gekommen sein.“

Auf dem Plakat, an das ich mich erinnere, waren zwei Dutzend Mädchen und Jungen abgebildet, denen der zweite Weltkrieg ihre Identität geraubt hatte. Die Mütter waren tot oder verschleppt. Die Väter seit Jahren an der Front, gefallen oder in Gefangenschaft. Keiner war mehr da, der ihnen sagen konnte, wer sie sind. Die 24 Mädchen und Jungen auf dem Bahnhofsaushang teilen ihr Schicksal mit vielen tausend Kindern in der Sowjetunion, in Polen oder Deutschland.

Mit den Jahren wurde den alleingelassenen Kindern immer schmerzlicher bewusst, dass sie allein sind. Allein ohne Eltern, ohne Geschwister und Verwandte. Oft lag die Erinnerung an die Familie verschüttet unter den Schrecken der Flucht. Den Kindern fehlte jedes Gefühl für Heimat. Dabei brauchen Kinder Wurzeln, um Halt zu haben im Leben.

Auch wenn in Heimen und Pflegefamilien für das nötigste gesorgt war, blieb die Frage: Wer bin ich? Woher komme ich? Was hat mich geprägt? Mit den Suchdienstplakaten verband sich die Hoffnung, mehr über sich selbst zu erfahren, auch Jahrzehnte nach der Flucht.

Die Frage nach der eigenen Identität, nach dem Namen und der Herkunft beschäftigt auch die Menschen, von denen in der Bibel erzählt wird. Ein Wort Gottes, das auf diese Fragen antwortet, findet sich beim Propheten Jesaja: „Fürchte dich nicht. Ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“

Für manche der namenlosen Kinder ist das zu ihrem Konfirmationsspruch geworden, der sie durch ihr weiteres Leben begleitete. Der Bibelvers erinnert daran, dass es neben den vielen offenen Fragen des Lebens vor allem eine wichtige Antwort gibt: Kein Mensch geht seinen Weg ganz allein. Es gibt einen, der ihn gewollt hat. Er kennt uns und sagt verlorenen Kindern: „Ihr seid mein“.