hr2 ZUSPRUCH
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Häbel, Dr. Ulf

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen

Das kleine Wunder

Komm, ich muss dir was zeigen. Mit diesen Worten empfing mich der dreijährige Nachbarsjunge; er nahm mich bei der Hand und führte mich zum Haus, in dem er wohnt. Vor einem Jahr ist er dort mit Mutter, Vater und einer sechsjährigen Schwester eingezogen. Seitdem restaurieren sie das alte Fachwerkhaus – Raum für Raum. Manchmal gehe ich hin und schaue mir an wie weit sie sind oder helfe ihnen auch mal. Wir sind Freunde geworden; meine Frau und ich sind auch Paten bei der Taufe der Kinder gewesen. Wir begegnen uns täglich. Am liebsten haben die beiden, wenn ich Traktor fahre und sie dürfen mit.

„Komm, ich muss dir was zeigen“. Ich war neugierig, was der Kleine mir zeigen wollte – vielleicht, dass sie im Haus wieder ein Zimmer fertig renoviert haben oder dass er ein neues Spielzeug bekommen oder sein Meerschweinchen Junge. Nein, es war etwas anderes.

Er führte mich über den Hof am Haus vorbei zu der großen Scheune dahinter. Wir gingen über das holprige Pflaster aus Vogelsberger Basalt über große Steinplatten und eine betonierte Zufahrt zur Scheune. Plötzlich blieb er stehen, ging in die Hocke und zeigte mit seinem kleinen Finger auf eine kleine unscheinbare Pflanze, die aus einem Spalt im Beton heraus wuchs. „Guck mal, das blüht“, sagte er und lachte mich dabei an, so als hätte er eine besondere Entdeckung gemacht.

Und es war ja auch so. Er hatte dieses kleine Unkraut entdeckt, das zwischen den toten Steinen und den Beton ein kümmerliches Dasein fristete. Vor ihm hatte das niemand gesehen oder beachtet. Für ihn und nun auch für mich war es ein kleines Wunder, dies unscheinbare Blümchen im toten Gestein.

Das wollte er mir zeigen; und mit seiner Entdeckung hat er auch mich überrascht. Hinterher habe ich gedacht: Wie oft laufe ich an solchen kleinen Dingen unachtsam vorbei. So ein unscheinbares Blümchen im Hof fällt doch nicht auf, das Lächeln eines Kindes wird schnell übersehen, der Gruß eines Menschen leicht überhört. Im Alltag, im üblichen Einerlei gehen die kleinen Dinge unbemerkt verloren. Kinder sind da noch aufmerksamer als wir, und darum entdecken sie auch mehr. Das hat mir mein kleiner Freund aus der Nachbarschaft gezeigt

Kinder haben eine natürliche Neugierde, und die soll man ihnen auch nicht abgewöhnen. Sie wollen die Welt und sich selbst darin entdecken. Und dabei spielen oft die kleinen, unscheinbaren Dinge eine Rolle – zum Beispiel ein blühendes Unkraut im Beton. Vielleicht hat Jesus diese Haltung gemeint als er seinen Zuhörern riet: „Ihr müsst werden wie die Kinder – aufmerksam, neugierig, achtsam – dann werdet ihr erfülltes Leben finden.“