Opfer?
„Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein.“ Das sagte Semiya Simsek beim Gedenken an die Opfer der Neonazimorde. Der Saal im Berliner Konzerthaus wurde plötzlich still. Als Semiya Şimşek vierzehn Jahre alt war, starb ihr Vater Enver, mit 38 Jahren erschossen am eigenen Blumenstand. Heute ist klar, dass Neonazis ihn ermordet haben. Elf Jahre lang tappte die Polizei im Dunkeln, vermutete sogar, der Vater oder ein Familienmitglied könnte in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen sein.
„Wir durften nicht einmal Opfer sein.“ Eigentlich will kein Mensch Opfer sein. „Du Opfer“ gehört zu den vernichtenden Schimpfwörtern auf dem Schulhof. Opfer sein ist wie ein Makel. Es ist, als könnten alle anderen es sehen und mit dem Finger auf mich zeigen: „Du warst zu schwach. Du konntest dich nicht wehren. Du bist das Opfer.“ Die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht stecken einem tief in den Gliedern und in der Seele. Es ist paradox: Man schämt sich, dass man Opfer geworden ist. Dabei müsste sich doch nicht das Opfer, sondern der Täter schämen.
„Wir durften nicht einmal Opfer sein.“ Semiya Şimşek spricht diese Worte vor über tausend Zuhörern aus. Sie erinnert daran, was geschehen muss, wenn eine Gesellschaft menschlich bleiben will: Opfer müssen anerkannt werden. Wo ein Mensch nicht aussprechen kann, welches Leid ihm angetan wurde, wo sogar der Verdacht umgeht, er könnte ja irgendwie selbst dran schuld sein, da triumphieren die Täter. Dem Unrecht wird Recht gegeben. Das Böse der Tat siegt zum zweiten Mal.
Damit ist weder dem Opfer noch dem Täter geholfen. Das Opfer bleibt Opfer, ist festgenagelt auf das Unausgesprochene, Ungeklärte. Der Täter bleibt Täter, denn seine Rechnung ging ja auf. Seine Tat bleibt ungesühnt. Gesiegt hat das Recht des Stärkeren.
„Opfer“. Fragezeichen. Das steht in großen Buchstaben auf Plakaten an Litfaßsäulen und auf Bannern, die jetzt in der Karwoche an Türmen von evangelischen Kirchen in Hessen angebracht werden. Opfer. Fragezeichen. Eine Hand ragt in den Himmel. Die Hand zeigt das Victory-Zeichen: Sieg! Doch die Hand ist durchbohrt. Aus einem Loch in der Handfläche rinnt Blut. Gehört die Hand einem Sieger oder einem Opfer?
Als Jesus geschlagen, verspottet, zum Tod am Kreuz verurteilt vor dem Volk steht, sagt der römische Machthaber Pontius Pilatus: „Seht, welch ein Mensch!“ (Johannes 19, 5). Mensch sein beginnt, wo wir anerkennen, dass jeder von uns schon einmal zum Opfer geworden ist, zum Opfer werden kann. Mensch sein beginnt, wo wir uns eingestehen, dass jeder von uns auch Täter sein kann und andere zu Opfern macht. In kleinen, scheinbar harmlosen Dingen, bei denen man sich auf Kosten anderer durchsetzen will. In schwer wiegenden Situationen, in denen ein Mensch einem anderen Leid zufügt.
Die Karwoche ist durchzogen von der tiefen Sehnsucht, dass es Erlösung gibt aus dem tödlichen Kreislauf, der Menschen nach Opfern und Siegern sortiert. Opfer müssen nicht Opfer bleiben und Täter nicht Täter.
Semiya Şimşek sagte am Ende ihrer Rede zum Gedenken an ihren ermordeten Vater: „Nur der Zusammenhalt aller kann die Lösung sein.“ Das ist ein Anfang.