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Eine Sendung von

Hochschulpfarrerin an der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) in Mainz

Im Paradies

Im Paradies

Eine Brachfläche mitten in Köln direkt neben einem Betonmonster aus den siebziger Jahren mit über zwanzig Stockwerken. Davor eine dicht befahrene Durchgangsstraße. Kein schöner Ort in Köln. Trotzdem heißt diese Brache seit sechs Jahren „Paradies“. Der Name hat mich neugierig gemacht und bei einem Besuch in Köln habe ich mir diesen Ort mit dem biblischen Namen angeschaut. Aus Holzresten, Europaletten, Scherben und Steinen hat ein Lebenskünstler auf der Brache eine verwunschene Welt geschaffen. Er nutzte die Materialien der Wegwerfgesellschaft, wie er es sagte, und schuf daraus etwas Neues.

Dieser Lebenskünstler nennt sich Ketan. Der Name ist Sanskrit und heißt Heimat. Eine Heimat hat Ketan auf dem Brachland tatsächlich erbaut. Nicht nur für sich, sondern auch für seine Lebensgefährtin und für verschiedene andere  Weltenwanderer, Kreative und Neugierige, die ihn für kürzer oder länger im Paradies besuchen. Ketan hat das Brachland nicht besetzt, sondern „freigesetzt“, wie er  erklärte. Das heißt, er hat das unbewohnte und Dreck übersäte Brachland von Müll befreit und daraus einen Freiraum mitten in der Großstadt geschaffen. Er wohnt in einem zweistöckigen Holzhaus, das er selbst gebaut hat. Auf dem Dach des Anbaus befindet sich die Küche mit Blick in die Umgebung. Ein Teich wurde ausgehoben. Ansonsten ist nichts fertig. Jeden Tag arbeitet Ketan weiter am Paradies. So wie es sich ergibt und wer gerade da ist, um mit zu bauen.

Ich konnte mit ihm sprechen und er hat mir gesagt: „Gott hat die Welt in sechs Tagen geschaffen. Die Menschen haben nicht lange gebraucht, um aus dem biblischen Paradies geschmissen zu werden“, meinte er. „Heutzutage sind wir alle verantwortlich, die Schöpfung zu bewahren und am Paradies mitzubauen.“ Ketan baut mit und andere haben auch was davon. Es gibt in seinem Paradies öffentliche Diskussionsfrühstücke, Führungen für Schulklassen und Kleingruppen. Ketan hat Kunst- und Bildungsprojekte in der ganzen Stadt initiiert. Dabei musste er sich auch mit Ämtern herumschlagen, denn sein alter Bauwagen aus dem Jahr 1910 wurde vom Ordnungsamt kurzerhand zu Schrott erklärt und sollte entsorgt werden. Dagegen hat sich Ketan erfolgreich gewehrt.

In seinem Paradies hat er weder fließend Wasser noch Strom oder Zentralheizung. Aber er vermisst nichts. Als ich ihn fragte, was er besonders paradiesisch findet, sagte er: „Menschen aus über 80 Nationen haben mich hier besucht. Sie haben mit mir gegessen und geredet, sie haben mit mir gebaut, diskutiert und gefeiert. Wir haben uns Zeit genommen und einen Ort belebt, den bisher überhaupt niemand wahrgenommen hat. Es war ein Niemandsland. Jetzt ist es kultiviert, geschmückt und bewohnt, ein geistiger Freiraum für viele.“ Soweit Ketan.

Aber sein Paradies ist bedroht. Genau auf der Brache soll demnächst das neue Kölner Stadtarchiv gebaut werden. Sein temporäres Zuhause wird er deshalb bald zurücklassen. Ob er aus dem Paradies vertrieben wird, fragte ich ihn. „Nein“, antwortete er verschmitzt. „Mein Paradies werde ich auch an einem anderen Ort finden und weiter bauen. So wie wir alle aufgerufen sind, kleine Paradiese zu bauen und zu bewahren.“