hr2 ZUSPRUCH
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Was wirklich leuchtet

Was wirklich leuchtet

Von zwei alten Damen erzählt das Buch, das ich Ihnen jetzt empfehle. Es hat den Titel „Das Zimmer“. Die eine der beiden alten Damen ist gesund, die andere krank. Die Gesunde will der Kranken gerne helfen und gibt ihr vorübergehend ein Zimmer. Ein schönes Zimmer in ihrem eigenen Haus mit Blick auf den Garten. Da könnte die kranke Freundin zufrieden sein, denkt man. Aber die Kranke will keine Hilfe. Sie ist gar nicht krank, denkt sie und sagt sie laut. In ein paar Tagen wird ihr geholfen. In dieser einen Klinik, in die sie unbedingt will, gibt es neue Mittel. Dann ist sie wieder fit, sagt sie jeden Tag wieder. Die Gesunde weiß es aber besser. Ihre Freundin ist sterbenskrank. Sie will es nur nicht wahrhaben. Sie verdrängt es mit all ihren Sinnen, spielt die lebenslustige und fröhliche, die einfach nur die richtige Pille braucht.

Davon erzählt der Roman „Das Zimmer“. So traurig das Buch ist, so heiter ist es manchmal. Die eine will nicht wissen, was sie wissen müsste. Die andere will ihr beim Wissen helfen. Ein Kampf um die Wahrheit ist das. Die Kranke redet jeden Tag so, als sei sie gleich wieder gesund. Und die Gesunde sagt vorsichtig, aber deutlich: Mach dir nichts vor; Dir geht es erst dann besser, wenn Du ganz ehrlich bist zu Dir und zu der den Nächsten um Dich herum.

Aber die Wahrheit tut eben oft weh. Manchmal möchte ich sie gerne wegschieben. Man will alle Träume vom Leben behalten und vielleicht gar nicht an den Tod denken. Die Freundin aber macht da nicht mit. Behutsam und deutlich bleibt sie bei ihrem Weg. Sie macht immer wieder das Gästezimmer sauber. Sie sitzt nachts am Bett, wenn die Kranke nicht schlafen kann. Sie wäscht die drei Nachthemden, die fast jede Nacht gebraucht werden. Das alles tut sie ganz eisern – einmal, um der Freundin zu helfen, aber auch, um allmählich die Lügen aufzudecken und zu besiegen.

Eines Tages ist es wirklich so weit. Die Kranke sagt leise: Als Nächstes kommt wohl der Tod, nicht wahr? Ja, sagt die Gesunde. Dann weinen sie lange. Diese Tränen sind eine große Befreiung. Jetzt muss keiner mehr gegen den Tod kämpfen.

Jetzt kämpfen beide für das Leben und die Zeit, die ihnen noch bleibt. Und dürfen wieder darauf hoffen, dass Gott größer ist als der Tod. Hoffen hat viel mit meiner Ehrlichkeit zu tun. Wenn ich alle falschen Lichter auslösche, dann sehe ich, was wirklich noch leuchtet. Meistens ist es die Liebe. Und der Tag kann schön werden.