Sünden-Suche
Lothar Zenetti, der langjährige Zuspruch-Autor und katholische Priester-Poet, hat es schon vor Jahren einmal auf den Punkt gebracht.
„Es sollte uns zu denken geben, „schrieb er, „dass heute keiner mehr von Sünde spricht, und kaum noch einer weiß, was es bedeutet, erst recht nicht so ein Wort auf sich bezieht und auf sein Handeln. Niemand fühlt sich schuldig. Keinem fällt es sein, von irgendwem, gar einem Gott, Vergebung zu erbitten. Nein, es scheint, als sei das Böse aus der Welt entschwunden.“
Nun wissen wir freilich alle, dass von einer Selbstauflösung des Bösen keine Rede sein kann. Aber dass der Begriff „Sünde“ heute merkwürdig beziehungslos in der Sprachlandschaft steht, und eher in Wortverbindungen wie „sündhaft gut“ oder „sündhaft teuer“ überlebt hat und dann meist etwas Unwiderstehliches meint, ist schon auffällig.
Nur in den Kirchen hat er noch Konjunktur. Vor allem das evangelische Gesangbuch ist voll davon. „O Mensch bewein Dein Sünde groß“, das wird in unzähligen Varianten immer wieder gesungen und bekräftigt.
Aber was stell’ ich mir darunter vor? Unter „mein Sünde groß“? Mord und Totschlag, Diebstahl und Hehlerei, Lug und Trug – das finde ich doch gar nicht in meinem Sündenregister.
Und mit dem Begriff „Erbsünde“ konnte ich schon als Kind nichts anfangen. Den empfand ich als eine theologische Konstruktion, um die Kirche groß und mich klein zu machen.
Nach und nach wurden mir ein paar einleuchtendere Definitionen dessen, was Sünde sei, angeboten. Ich probierte sie an, wie man ein Kleid anprobiert, um zu sehen, ob es passt.
Sünde, so lernte ich, etwas pauschal, ist die Trennung von Gott. Ja, war ich denn je mit ihm vereinigt? Ist nicht mein Blick auf Gott immer von unbeschreiblicher Distanz geprägt? Ehrfurcht und Nähe, das geht nicht gut zusammen.
Ein anderer Sündenbegriff kam schon dichter an mich heran.
Sünde, so lernte ich, sei die Überheblichkeit des Menschen, das Sich-Selbst an die Stelle Gottes setzen. Sei Stolz, sei Habsucht, sei Unterdrückung, sei das Bedürfnis, höher zu stehen als die Anderen.
Darunter konnte ich mir etwas vorstellen. Konnte Spurenelemente davon in mir selber wahrnehmen. Und doch – auch dieses Sünden-Register empfand ich noch immer als eine Nummer zu groß für meinen kleinen weiblichen Alltag. Konnte solche Sünde immer leichter den Männern der Macht zuschreiben als mir.
Und dann fiel eines Tages der Satz, der mir einen neuen Zugang eröffnete. Sünde sei, so sagte es meine Freundin Maria, nicht nur das Böse, das ich tue, sondern eben auch das Gute, das ich nicht getan habe.
Klick, machte es in meinem Kopf. Und auf einmal wurde Sünde konkret und durchzog mein Leben wie ein breites Band.
Wie viel Liebe schuldig geblieben. Wie viel Fürsorge schlecht geleistet. Wie viele Kranke nicht besucht. An wie viel Elend vorbei gesehen. Wie wenig wahrgenommen den Anderen. Wie wenig geteilt mit dem Bedürftigen. Wie ängstlich die Berührung gescheut mit Unangepassten...
Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Ein Gebot so klar wie Wasser und doch die größte Herausforderung im Alltag.
Was siehst Du mich an, Gott? Ich hab`s ja begriffen. Ich bin Deiner Gnade bedürftig.