Singende Gemeinde
Irgendwann gab es mal eine Umfrage, was Katholiken von Protestanten und Protestanten von Katholiken lernen können.
In Erinnerung geblieben sind mir vor allem zwei Antworten: die Protestanten könnten viel von den Katholiken lernen, was Sorgfalt bei liturgischen Handlungen anbetrifft. Die Katholiken wiederum könnten sich von der Sangesfreudigkeit der evangelischen Gemeinden anstecken lassen.
Es ist ja wahr, im evangelischen Gottesdienst wird viel gesungen. Vier, fünf Lieder, jeweils mit mehreren Strophen, das ist Standard. Es können aber auch noch mehr sein.
Das Singen ist der aktive Part der Gemeinde an der Gestaltung des Gottesdienstes.
Das evangelische Gesangbuch stellt dafür eine Fülle von Liedern zur Verfügung, die längst allgemeines, konfessionsübergreifendes Kulturgut geworden sind.
Auch diese Entwicklung nahm ihren Anfang bei Luther. Ganz bewusst hat der Reformator, der selbst ein begeisterter Sänger war, seine theologischen Erkenntnisse nicht nur dem Katechismus, sondern eben auch dem Lied anvertraut. Denn über die Melodie wird behalten, was dem Gedächtnis leicht entfällt. Und diese Melodien nahm Luther vielfach aus dem Volkslied und verband das mit der Aufforderung, die neuen Lieder überall zu singen, auf der Straße, zuhause, und eben auch im Gottesdienst.
Dort nämlich war die Mitwirkung der Gemeinde damals auf ein Kyrieleis, ein Halleluja oder Hosianna an der richtigen Stelle beschränkt. Geistliche Lieder in der Volkssprache waren im Gottesdienst nicht zugelassen. So hatte es ein Konzil im 15. Jahrhundert beschlossen. Latein war die Kirchensprache, nicht Deutsch. Und Chorgesang war die Sache von geistlichen Profis.
Und nun auf einmal geistliche Lieder auf deutsch. Fromme Lieder für alle. Auch und gerade für die, die nicht lesen und schreiben konnten!
Das Volk nahm die Einladung begeistert auf. Der Gemeindegesang hat dem Protestantismus im einfachen Volk wahrscheinlich mehr Freunde gewonnen als all die noch so klugen Predigten von Luther und Melanchthon und ihren theologischen Mitstreitern.
Das illustriert sehr schön diese historische Begebenheit: Der lippische Landesherr Simon V. lehnte die neue Lehre ab und bemühte sich, sie zu unterdrücken. Dies forderte er auch vom Rat der Stadt Lemgo, die in seinem Territorium lag. So schickte der Lemgoer Bürgermeister im Jahr 1533 Ratsdiener in die Kirchen, um die Abtrünnigen, also die, die sangen, festzustellen und zur Ordnung zu rufen. Doch die Diener kamen zurück und meldeten: „Herr Bürgermeister, sie singen alle“. Darauf rief der: „Ei, es ist alles verloren.“
Die Evangelische Kirche in Deutschland bewegt sich auf ein Lutherjahr zu. 2017 wird sie das 500. Jubiläum des Thesenanschlags feiern, der als Beginn der Reformation gilt. Jedes Jahr bis dahin steht unter einem anderen Thema.
Für 2012 ist es das Thema „Reformation und Musik“. Ein dicht gewebtes klingendes Band geistlicher Musik wird sich also im kommenden Jahr durch Deutschland ziehen, von A-Z.
Es beginnt am 1. Januar in Augsburg und endet am 31. Dezember 2012 in Zittau. Das sind, im vor uns liegenden Schaltjahr, 366 ganz besondere Konzerte und Gelegenheiten, mitzusingen.