Einsam
Die antike Großstadt Athen hatte viele Götter. Paulus erzählt, er habe sogar einen Altar gefunden, den ziere eine Aufschrift, die lautet: dem unbekannten Gott. Die waren schon klug, die Athener. Damit hatte man sich versichert, falls man einen der vielen Götter vergessen hätte. Wer heutzutage Urkunden zu verteilen hat, ist auch immer gut beraten, eine zu viel dabei zu haben. Es kann ja sein, dass jemand vergessen wurde. Zurück zu den Athenern: Überdies war das vielleicht der richtige Altar für all diejenigen, die auf der Gottsuche an einem Punkt waren, an dem sie dem, was sie suchten, lieber keinen Namen geben wollten. Das war sicher ein buntes Völkchen Gläubiger, das sich damals vor diesem Altar eingefunden hat.
Ich glaube nicht, dass sich derzeit ein Magistrat um so einen Altar kümmern müsste. Dem unbekannten Gott kommt man nicht näher, in dem man einen Platzhalter aufstellt. Aber etwas anderes wünsche ich mir. Ein Erinnerungszeichen für die vergessenen Menschen der Stadt. Damit meine ich nicht Verstorbene, die es wert sind, dass man sich an sie erinnert. Ich meine lebendige Menschen, die in der Stadt wohnen, aber nicht mehr aus dem Zimmer herausfinden. Vielleicht weil sie depressiv sind, vielleicht weil sie vom Alkohol nicht loskommen, bleiben sie vergessen und einsam auf ihrem Zimmer.
„Vergessen“ ist noch nicht mal vollständig richtig. Es gibt da noch Geschwister, Nachbarn, die sich kümmern wollen. Aber der Mensch will nicht. Die Tür zu ihrem Zimmer wird nicht von außen zugedrückt, sie ziehen sie von innen zu. In aller Regel versuchen Familien das zu verhindern, aber es will nicht immer gelingen. Es gibt fast immer eine Hilfe von außen - aber nur, wenn der Mensch drinnen danach fragt. Wenigstens etwas Initiative muss von ihm kommen. Manchmal müssen Angehörige und Nachbarn erleben, dass es nicht passiert. Dann kommt noch das schlechte Gewissen hinzu, weil man helfen möchte und nicht kann.
Da wünsche ich mir, dass - abgesehen von den Verwandten - sich andere wenigstens bewusst machen, dass es vergessenen Menschen gibt. Man schaut immer mit erhöhter Aufmerksamkeit auf Straßenzüge, wenn man sie noch nicht kennt. Man muss sich manchmal viel mehr wundern, wie wenig man von seiner allernächsten Nachbarschaft weiß, von der man meinte, sie doch einigermaßen zu kennen, wenigstens dem Sehen nach. Ich bin nicht sicher, ob ein Erinnerungszeichen in der Stadt das richtige wäre. Aber wenn sie sich die Zeit nehmen, an andere zu denken, sollte dort auch ein Erinnerungszeichen sein für die, von denen keiner etwas weiß. Ich glaube, das hilft wenigstens denen, die noch wissen, dass es sie gibt. Und hoffentlich öffnet sich die Tür auch wieder einen Spalt.