Das Scherflein der Witwe
Gestern ist sie mir wieder begegnet. Immer an derselben Stelle in der Stadt. Eine obdachlose Frau, die mit ihren Tüten und Taschen, ihrem Hab und Gut unterwegs ist. Irgendwie bewegt mich besonders, wenn ich auf Frauen treffe, die auf der Straße leben. Sehr lange konnte ich kaum hinsehen.
Eine biblische Geschichte hat mir einen Weg gezeigt, anders hinzusehen. Seitdem kann ich die Frau ansehen und manchmal ihr auch zulächeln und mich freuen, wenn ich sie wieder sehe. Die Geschichte steht genau vor der Passionsgeschichte, vor den Geschichten über das letzte Abendmahl, den Verrat und die Gefangennahme von Jesus. Sozusagen ein letzter Eindruck von seinem Wirken als Lehrer.
Jesus und seine Jüngerinnen und Jünger sitzen im Jerusalemer Tempel. Sie sitzen einfach in diesem wunderbaren Raum und sehen den Menschen zu, wie sie in das Gotteshaus hineinkommen und auch wieder hinausgehen. Viele gut betuchte Leute kommen und spenden Geld für die Renovierung des Gotteshauses. Da kommt eine Frau, die eine Witwe ist, wie es heißt. Und man scheint ihr anzusehen, dass sie arm ist. Ich stelle mir vor, wie sie mit ihrem schwarzen Kleid in den Tempel kommt, ihr Kleid ist abgetragen und geflickt. Ich stelle mir vor, wie sie zum Gotteskasten geht. Das ist der hölzerne Kasten, in dem Geld für den Tempel gesammelt wird. Sie wirft zwei ganz kleine Münzen hinein. So, als wenn sie heute zwei 1 Cent-Stücke in den Kasten werfen würde. So ungefähr hat schon Martin Luther die Sache aufgefasst. Er nannte die Geldstücke Scherflein. Der Scherf war zu seiner Zeit die kleinste Münze.
Zurück zu Jesus und die Frau: Als er sie sieht, steht er nicht auf und sagt auch gar nichts ihr. Er sagt nicht: „Du brauchst nicht zu spenden, Du hast doch selber nichts.“ Er sieht ihr nur zu und sagt zu seinen Jüngerinnen und Jüngern: „Diese arme Witwe hat mehr eingelegt als alle anderen. Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss abgegeben, die Witwe hat aber ihr ganzes Hab und Gut hineingelegt.“
Manchmal wird Jesus als Prophet beschrieben, manchmal als Priester, manchmal heilt er, ist ein Arzt. In dieser Geschichte ist er ein Lehrer. Ein Lehrer für die Kunst des Lebens. Die Kunst des Lebens kann man lernen, wenn man auf das Acht gibt, was Menschen tun, die im Unscheinbaren leben, die am Rande stehen, deren Tun offensichtlich keinen großen Wert hat. Jesus lehrte eine leidenschaftliche Aufmerksamkeit für die Armen. Schaut hin – sagte er – schaut hin, was diese arme Frau tut. Niemand muss große Opfer bringen. Jeder kann „sein Scherflein beitragen“.
Dieser Blick auf die Dinge macht es möglich, auch Menschen plötzlich anders anzusehen. Sie nicht nur als hilfsbedürftig zu sehen. Das Scherflein bleibt dabei ein Scherflein. Aber – modern ausgedrückt könnte man sagen: Jesus sieht, welche Möglichkeiten die Frau hat. Und dass sie ihre Möglichkeiten nutzt, zum Lob Gottes. Jesus sieht das, weil er sie sozusagen ressourcenorientiert ansieht.
Mich hat diese Geschichte dazu angeregt, wenigstens ab und zu mit Jesu Augen durch die Welt zu laufen. Zum Beispiel wenn ich auf dem Weg zum Bäcker wieder der obdachlosen Frau begegne. Sie ansehen und sie zu grüßen, das heißt auch selbst zu sehen und auszuhalten, dass es für sie ganz schön hart ist, auf der Straße zu leben. Aber das ist nicht alles, was über sie zu sagen ist. Von vielem, was arme Menschen tun, sieht und weiß man nur wenig. Darum ist es gut, ganz leidenschaftlich auf sie aufmerksam zu werden. Denn es ist mit mehr als nur mit ihrer Armut zu rechnen.