Nikodemus: Einer, der zwischen den Stühlen sitzen kann
Aufgeheizte Zeiten brauchen Menschen, die vermitteln können. Die für Recht eintreten, wo nur Meinungen geschrien werden. Der biblische Nikodemus war so ein Mensch. Er war mit Jesus im Gespräch. Dem ökumenischen Autoren-Team Anne-Katrin Helms und Ansgar Wucherpfennig ist er ein Vorbild.
Verschiedene Menschen unterm Kreuz
Ansgar Wucherpfennig
In den Wochen vor Ostern erinnern sich Menschen in den christlichen Kirchen an die Passion Jesu, seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung. Jesus, der das Holz seines Kreuzes nach Golgatha hinaufträgt, an das er dann genagelt wird und an dem er nach einigen Stunden stirbt.
Die Passionsgeschichten der Bibel berichten von Menschen, die dabei waren. Das sind eine Reihe von Personen mit bekannten Namen: Pontius Pilatus, der römische Verwaltungsbeamte. Er war zunächst hin- und hergerissen und hat am Ende Jesus doch dem Tod am Kreuz ausliefert. Petrus, der seine Freundschaft zu Jesus dreimal leugnet. Maria Magdalena, die nicht wegläuft, als Jesus gekreuzigt wird und die Erste, der Jesus als Auferstandener begegnet.
Helden jenseits des Rampenlichts
Daneben gibt es auch eine Reihe nicht so bekannter Menschen. Für mich sind sie so etwas wie „Lieblingshelden im Alltag“. Sie treten nicht in das große Rampenlicht, aber sie können richtig wichtig sein.
Anne-Katrin Helms
Einen von diesen Lieblingshelden im Alltag stellen wir jetzt vor. Uns bedeutet er viel. Denn er zeigt, wie wichtig Menschen sind, die vermitteln können in aufgeheizten Situationen und Zeiten. Die sich nicht gleich auf die eine oder andere Seite schlagen. Wir erzählen deshalb jetzt von Nikodemus. Nicht so bekannt heute wie Petrus, Maria und Pilatus. Doch ursprünglich war Nikodemus nicht unbedeutend. Nach dem Neuen Testament gehörte er zu den „Führenden in Israel“. Das heißt: Er muss zur Oberschicht gehört haben; und auch zum Sanhedrin, dem höchsten politischen jüdischen Gremium, das es zurzeit Jesu gab. Er war also so etwas, was man heute einen führenden Politiker nennen würde. Jesus nennt ihn sogar „Lehrer Israels“ (Joh 3,10). Das heißt: Mit seiner Bildung und Klugheit genoss er gesellschaftliches Ansehen. In der Bibel kommt er dreimal vor, dreimal im Johannesevangelium, und wir finden, dass er und sein Handeln uns an allen drei Stellen etwas zu sagen hat.
Wer war Nikodemus?
Nikodemus war Pharisäer. Jesus setzt sich immer wieder mit der Gruppe der Pharisäer auseinander, manche Forscher nehmen an, er gehörte selbst zu ihnen. Pharisäer sind eine wichtige Gruppe seines jüdischen Volkes. Sie lasen die Bibel intensiv. Sie wollten im Einklang mit den Geboten Gottes leben, im Alltag. Pharisäer sind Schriftgelehrte und sind eine Art Laienbewegung mit anderen Schwerpunkten als die Priester am Jerusalemer Tempel.
Schon die Geschichten im Neuen Testament stellen die Pharisäer in einem Zerrbild dar, das ihrer tatsächlichen geschichtlichen Wirklichkeit nicht entspricht. In den Evangelien gelten sie oft als unehrlich und kleinlich, weil sie anderen predigen, was sie selber nicht halten. Bis in unsere Zeiten hält sich zum Teil noch das Bild von Heuchlern und Scheinheiligen. Das wird den Pharisäern nicht gerecht.
Die Pharisäer im Neuen Testament: Gesprächspartner und Negativfolie
Ansgar Wucherpfennig
Die Pharisäer sind an vielen Stellen im Neuen Testament eine Negativfolie zur Menschlichkeit Jesu. Doch sie waren wichtige Gesprächspartner für ihn, jüdische Glaubende wie Jesus selbst. Wie Jesus haben die Pharisäer überlegt, welche Bedeutung die Tora, die Gebote Gottes, für das alltägliche Leben hat. Einige Pharisäer haben sich Jesus auch angeschlossen. Die Pharisäer wollten Bildung und Treue zum Wort Gottes im ganz Volk verbreiten, damit sie nicht nur einer ausgewählten Elite vorbehalten waren. Heiligkeit und Gerechtigkeit sollten nicht nur ein Ideal für Priester sein, sondern das ganze Volk sollte daran teilhaben.
Pharisäer waren gebildete Rechtsgelehrte. Ihre Position, die sie im Judentum zurzeit Jesu vertreten haben, nennt man oft „kasuistisch“. Das bedeutet, sie haben möglichst viele Einzelfälle – also: möglichst viele Kasus – regeln wollen. Für alles sollte es im Alltag eine Regel geben, die Gottes Gerechtigkeit entspricht. Die Pharisäer sind an vielen Stellen im Neuen Testament wie „Besserwisser“ dargestellt. Sie sind dort Leute, die auf alles eine Antwort und zu jedem Thema was zu sagen haben. Wegen des verzerrten Bildes in den Geschichten der Bibel hatte ihre Darstellung in den vergangenen Jahrhunderten judenfeindliche Züge. Und manche Christen denken bis heute mit Vorurteilen über sie.
Der Phariäser Nikodemus
Anne-Katrin Helms:
Nikodemus ist ein Pharisäer. Der Evangelist Johannes zeigt ihn als aufrechten Menschen, klug und nachdenklich. Als Nikodemus das erste Mal zu Jesus kommt, ist es Nacht. Er belehrt Jesus nicht, obwohl er selbst viel weiß. Er fragt.
Ich stelle mir vor, wie sich Nikodemus im Dunkeln an den Hauswänden der Jerusalemer Altstadt entlang tastet, um nicht gesehen zu werden. Ich glaube nicht, dass er ein Feigling und Angsthase ist und deshalb die Nacht wählt, um nicht mit Jesus gesehen zu werden. Ich denke eher: Auch bei ihm – wie bei mir auch – kommen in der Nacht Gedanken hoch, die ich sonst nicht zulasse. Dann nimmt mich der Alltag nicht mehr in Beschlag und es ist Zeit für andere Fragen.
Mit Fragen und Zweifeln nich allein bleiben
Nächtliches Suchen und Fragen mag auch den klugen, weisen Menschen Nikodemus umtreiben. Es gehört zu ihm: das Grübeln, die Unsicherheit, die Sehnsucht nach Vergewisserung. Mir gefällt, dass er seine Fragen und Zweifel nicht nur mit sich selbst ausmacht. Da gehört schon eine Portion Mut dazu, wenn ich zugebe: Ich bin ratlos, ich komme mit meinen Fragen und meinem Problem nicht allein zurecht. Mir Hilfe zu suchen, braucht immer einen Ruck. Gern bin ich doch selbst so schlau und fit, dass ich meine Probleme allein lösen kann. Nikodemus traut sich, zur Sprache zu bringen, was ihn nachts wachhält. Deshalb geht er zu Jesus.
Musik: William Blezard, Duetto, English String Miniatures, Vol. 3 (David Lloyd-Jones: Royal Ballet Sinfonia)
Ansgar Wucherpfennig:
Nikodemus kommt zu Jesus, weil er sich von den Zeichen Jesu hat überzeugen lassen. Um welche Zeichen es geht, darum wird es noch gehen. So jedenfalls eröffnet Nikodemus das Gespräch mit Jesus (Joh 3,2): „Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.“ Nikodemus spricht Jesus als Rabbi an. Das ist die Anrede, mit der Schüler ihre Lehrer angesprochen haben. Nikodemus ist selbst ein anerkannter Lehrer in Israel. Hier spricht er zu Jesus wie ein Lernender. Nikodemus zeigt damit, was wirkliche Bildung ist, gerade für die Pharisäer: die Suche, immer wieder Neues lernen und wissen zu wollen.
Anne-Katrin Helms:
Nikodemus ist das Gegenteil von einem Besserwisser, dem man nichts Neues über den Glauben erzählen kann. Er eröffnet ein Gespräch mit Jesus. Es ist wie ein Türöffner. Nikodemus sagt zu Jesus: Ich weiß, du bist etwas Besonderes. Deshalb traue ich dir was Besonderes zu. Lass mich dran teilhaben. Ich bin auf der Suche. Ich bin bereit, mich, meinen Glauben und mein Wissen auf den Prüfstand zu stellen.
Fragen und Nöte ehrlich offen legen
Wer schon mal vieles oder sogar alles auf den Tisch gelegt hat, um sich kritisch zu prüfen, kann vermutlich Nikodemus verstehen. Wer wie er Fragen und Nöte auf den Tisch gelegt vor einem anderen Menschen. Oder auch vor Gott. Seine Seele vor Gott öffnet, sich von Gott anschauen lässt.
Wer das tut, merkt vielleicht: Ganz so selbstbewusst wie ich dachte, bin ich nicht. Ganz so stark, wie ich erhoffte, bin ich nicht. Ganz so aufgeschlossen und freundlich, wie die anderen von mir denken, bin ich nicht. Sich so zu öffnen, kann weh tun. Das kostet Kraft. Das erfordert Mut. Das kann aber auch guttun, weil man seine Wahrheit ausspricht. Das kann heilsam sein.
Das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus
Nikodemus kommt also nicht zu Jesus, um sich bestätigen lassen. Er will Neues hören, auch wenn es sein altes Wissen in Frage stellt. Er öffnet sich. Das ist leicht gesagt und schwer getan. Das Gespräch, das sich nun entwickelt, ist verwirrend, wenn man es zuerst liest in der Bibel. Auch Nikodemus versteht nicht sofort, was Jesus ihm sagen will. Dabei geht es nun um die Zeichen, die Jesus getan hat und was sie bedeuten.
Ansgar Wucherpfennig:
Nikodemus fragt Jesus, weil er seine Zeichen gesehen hat. Wenn er von den Zeichen spricht, fällt ein wichtiges Wort für das Johannesevangelium. Der Evangelist Johannes nennt die Wunder Jesu so, er nennt sie „Zeichen“. Jesu Taten sind für ihn keine spektakulären Events, um eine große Menge zu beeindrucken. Es sind Zeichen, die eine tiefere Bedeutung haben, die auf etwas Anderes hinweisen: Sie sollen die Menschen auf das Leben aufmerksam machen, das Gott ihnen schenken will. Nach dieser Bedeutung sollen die Menschen fragen, wenn sie die Zeichen Jesu sehen. Sie sollen fragen: Was bedeutet Gott für mein Leben?
Was bedeutet Gott für mein Leben?
Genau das tut Nikodemus: Er fragt Jesus. Jesus gibt ihm eine Antwort, allerdings klingt sie ziemlich rätselhaft (Joh 3,8): „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“
Nicht leicht zu verstehen im Deutschen, doch etwas hilft dabei: Das Hebräische und das Griechische haben ein und dasselbe Wort für Geist und Wind. Im Deutschen lässt es sich nicht gut übersetzen. Ich kann mir Jesu Antwort also so erklären: Gottes Geist ist etwas, das den Menschen umgibt, wie die Luft und der Wind. Jemand, der wissen will, was Gottes Leben für ihn bedeutet, der muss auf Gottes Zeichen achten. Das ist so schwierig wie den Wind zu beobachten. Der kann sehr schnell wechseln und aufbrausend sein. Manchmal steht er sogar still. So muss auch jemand, der Gottes Zeichen verstehen will, immer weiter und immer wieder neu lernen, wo Gottes Geist gerade gegenwärtig ist. Wie man den Wind nie ganz genau berechnen kann, kann ich auch nie ganz genau wissen, wo Gottes Geist weht. Aber ich kann langsam ein Gespür dafür bekommen, in welche Richtung Gottes Geist mich bewegt. So verstehe ich Jesu Worte an Nikodemus: „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“
Musik: Ernest Bloch, aus: Jewish Life: 2 Supplication, Prayer (Sol Gabetta)
Anne-Katrin Helms:
In der zweiten von drei Geschichten, die der Evangelist Johannes im Neuen Testament von Nikodemus erzählt, zeigt Nikodemus solch ein Gespür für Gottes Geist. Diesem Wind, der weht, wo er will. Dem Wind, der Menschen bewegt.
Nikodemus tritt für Jesus ein
Als Jesus im Jerusalemer Tempel als Lehrer auftritt und mit seiner Rede die Zuhörer bewegt, ist das vielen religiösen Gelehrten ein Dorn im Auge. Sie versuchen, Jesus festzunehmen. Das gelingt ihnen aber nicht. Um ihr Gesicht zu wahren, spielen sie herunter, was Jesus sagt und tut. Niemand, der Verstand habe, würde auf das hören, was er zu sagen habe. Nikodemus, der selbst zu den Gelehrten gehört, macht da nicht mit. Er ergreift Partei für Jesus. Er fragt, ob das Gesetz jemanden verurteile, bevor man ihn gehört hat und bevor man sich einen tragfähigen Eindruck verschafft hat. So grätscht er seinen Kollegen mitten rein und rettet Jesus vor deren Gehässigkeit.
Nikodemus schlägt seine gelehrten Kollegen mit ihren eigenen Waffen und verunsichert sie mit einer Frage: „Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, ehe man ihn angehört und erkannt hat, was er tut?“ (Joh 7,51)
Ansgar Wucherpfennig:
Bevor Nikodemus für Jesus eintritt, gibt es bei vielen einen starken Widerstand gegen Jesus. So, wie es das Johannesevangelium berichtet, hatte es in Jerusalem schon vorher Aufsehen um Jesus gegeben. Schon bei seinem ersten Besuch hat er dort die Händler aus dem Tempel vertrieben: ein Protestzeichen, das die Menge gespalten hat. Bei seinem nächsten Besuch in Jerusalem heilt Jesus am Sabbat einen Gelähmten und trägt ihm auf, seine Trage mit nach Hause zu nehmen (Joh 5,8). Das löst noch mehr Widerstand aus. Der Sabbat ist ein heiliger Tag. Schon im Propheten Jeremia stand, dass man am Sabbat in Jerusalem keine Gegenstände herumtragen darf (Jer 17,21f).
Der Konflikt spitzt sich zu
Jesus spaltet die Menge. Eine Gruppe, unter ihnen wohl auch Pharisäer, stellt sich offen gegen Jesus. Erste Stimmen fordern, ihn zu töten. Andere sind für ihn, wohl auch unter den Pharisäern. Einer davon ist Nikodemus.
Danach spitzt sich der Streit um Jesus noch mehr zu. Jesus kommt als einfacher Pilger zum fröhlichen Laubhüttenfest am größten heiligen Ort, in den Tempel. Jesus lehrt dort. Die Stimmung wiegelt sich immer mehr gegen ihn auf. In dieser Situation tritt Nikodemus für Jesus ein. Er bleibt dabei der Position der Pharisäer treu: Er fragt nach Recht und Gesetz. Und er tritt dafür ein, dass Jesus rechtlich fair behandelt wird. Jesus hat nach der Tora das Recht, angehört zu werden (Dtn 1,16f). Nikodemus hat Mut, für dieses Recht einzutreten, und das in einer erhitzten Stimmung.
Nikodemus zeigt: Recht und Gesetz gilt für jeden Menschen
Heute würde man davon sprechen, dass Nikodemus für Rechtsstaatlichkeit eintritt, dafür, dass eine aufgebrachte Menge nicht einfach das Recht von Menschen beugen darf. Das gilt auch heute in unserem Rechtsstaat. Es gibt Rechte auch für Menschen, die sich in unserem Land aufhalten. Sie haben Recht auf faire Prozesse, auf ärztliche Behandlung, auf ein Mindest-Auskommen. Trotzdem gibt es viele, die das bestreiten. Ein Mensch wie Nikodemus erinnert mich daran, dass Recht und Gesetz für jeden Menschen gelten. Und das auch ich dafür eintrete.
Musik: Jean Sibelius, Vorspiel Der Sturm, CD 4 Who Is Afraid Of 20th Century Music Vol.4 (Philharmonisches Staatsorchester Ingo Metzmacher)
Anne-Katrin Helms:
Bei der Kreuzigung ist Nikodemus noch mutiger, das berichtet die dritte Geschichte über Nikodemus im Johannesevangelium.
Eine würdige Bestattung dank Nikodemus
Nikodemus geht gemeinsam mit einem anderen Mitglied des Sanhedrin, des jüdischen Verwaltungs- und Justizorgans, bei einbrechende Dunkelheit zum Kreuz. Nikodemus nimmt Jesu Leichnam ab und bringt ihn zu einem Grab. Das ist etwas Besonderes. Denn Jesus wurde wie ein Schwerstverbrecher hingerichtet. Die Kreuzigung war eine der grausamsten Todesstrafen in der damaligen Zeit, dazu wurden nur Staatsfeinde, Terroristen Attentätern oder andere Kriminelle verurteilt. Gewöhnlich erhielten sie gar kein richtiges Begräbnis, sondern ihre sterblichen Überreste wurden einfach einige Tage nach ihrem Tode in ein Massengrab geworfen.
Ansgar Wucherpfennig:
Nikodemus verhindert das. Er tut sogar noch mehr: Er bringt für den Leichnam Jesu Myrrhe gemischt mit Aloe mit. Das sind pflanzliche Substanzen, die desinfizieren, konservieren und gut riechen. Und zwar nicht in einem kleinen Fläschchen Salböl, sondern richtig viel. Er muss dafür einiges Geld aufgebracht haben, weil Myrrhe und Aloe teuer waren. Die Salböle wurden in die Leinentücher gerieben, mit denen der Leichnam eingewickelt wurde. Die Absicht war, dass der Leichnam Jesu nicht so schnell verweste. Damit, dass Jesus drei Tage später auferstehen würde, hat Nikodemus nicht gerechnet. So sorgt Nikodemus dafür, dass Jesus ein würdiges Begräbnis bekommt. Nikodemus will zeigen: Jesus war und bleibt für mich ein besonderer Mensch, ein kluger Lehrer mit einem gebildeten Herzen. Ich konnte mich ihm gut anvertrauen, und er hat mich so angenommen, wie ich bin. Dass man ihm seine Würde nehmen will, lasse ich auch nach seinem Tod nicht zu.
Musik: Musik: Ernest Bloch, Suite Hébraïque II. Professional: Andante von Moto, Ernest Bloch (Christiane Oelze, Tabea Zimmermann; Steven Sloane: Berlin Deutsches Symphony Orchestra)
Anne-Katrin Helms:
Nikodemus war kein Jünger Jesu wie Petrus, Maria Magdalena und andere Frauen und Männer, die mit Jesus umhergezogen sind. Vielleicht war er nicht mutig genug dafür, oder das Umherziehen war nicht seine Sache. Ich kann das verstehen: Er war ein angesehener und reicher Bürger in Jerusalem. Da wirft man nicht alles einfach hin, um mit einem Wanderprediger durch die Gegend zu ziehen.
Ein Vorbild bis heute
Menschlich beeindruckt mich Nikodemus. Er lässt sich nicht beirren, sondern bleibt sich selbst treu. Und dabei bleibt er auf seine Weise auch Jesus treu.
Heute würde man das vielleicht „Teilidentifizierung“ nennen. Nikodemus gibt nicht sein ganzes Leben für Jesus hin. Er bleibt in seinem Lebensumfeld. Aber darin gibt er alles, was möglich ist. Und das ist ziemlich viel.
Das macht ihn zu einem Vorbild für mich heute: Ich muss mein Leben nicht zu 100 Prozent einer Überzeugung und einem Lebensmodell hingeben. Ich kann eben auch in meinem Beruf, in meiner Familie, in meiner Lebenssituation bleiben und gerade darin Gutes bewirken und mich zu meinem Glauben an Jesus Christus bekennen. Aber wenn es darauf ankommt, dann will ich auch tun, was richtig und wichtig ist. Und sei es zögerlich oder in der Nacht, wenn mich niemand sieht.
Ansgar Wucherpfennig:
Für mich ist Nikodemus einer, der zwischen den Stühlen sitzen kann. Das Bild passt für mich gut: Wenn ich es höre, klingt das unbequem zwischen den beiden Stuhlkanten. Zwischen den Stühlen zu sitzen, ist schon in einfachen Situationen nicht leicht. Es passiert manchmal, dass man sich in einem Konflikt mit beiden Parteien verbunden fühlt. Persönlich fühle ich mich in solchen Situationen ganz unwohl, weil ich beide in ihrem Recht sehe. Das Problem ist, dass aber auch beide wollen, dass ich mich für sie entscheide. Es ist schwierig: Dass ich aushalte, beiden Positionen ihr Recht zu lassen.
Zwischen den Stühlen - eine schwierige Position bis heute
Genau das ist Nikodemus aber gelungen. Er war Pharisäer und ist es auch geblieben, und er ist Jesus gefolgt und hat sein Herz an ihn gehängt. Ich glaube, gerade in unserer heutigen Situation, in der sich Meinungen und Positionen immer stärker auseinander bewegen, sind solche Menschen wichtig: Menschen, die es fertigbringen, zwischen den Stühlen zu sitzen, und unterschiedliche Parteien so zusammen zu halten.
Anne-Katrin Helms:
Am Ende des Johannesevangeliums kommt Nikodemus vielleicht noch einmal vor, sicher ist das nicht. Da sind mehrere Jünger genannt, einige mit Namen und einige ohne Namen (Joh 21,2). Ich kann mir vorstellen, dass Nikodemus einer von den Jüngern ist, die nicht mit Namen genannt sind. Jesus hat nicht nur Menschen gewollt, die sich ihm hundertprozentig hingeben. Er hat Nikodemus so gelassen, wie er war: Pharisäer und Jünger Jesu. Jesus war wichtig, dass es Menschen gibt, die zwischen den Stühlen sitzen können.