hr2 MORGENFEIER
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Krebs, Stephan

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Langen

Mehr als lecker. Essen zwischen Kultur, Haltung und Glauben

Essen ist etwas Schönes. Manche tun sich zwar schwer damit - aus gesundheitlichen Gründen. Aber die meisten freuen sich doch auf eine leckere Mahlzeit. Weil sie Hunger haben. Weil sie den Geschmack mögen. Weil Essen oft auch heißt: Pause machen und andere Leute treffen.

Versammelt um die festliche Tafel

Auf jeden Fall gehört leckeres Essen zu einem Fest dazu. Darüber denkt Britta gerade nach. Sie wird bald 50. Das möchte sie feiern. Mit Familie und Freunden. Der Gedanke daran lässt sie glücklich lächeln: Alle ihre Lieben versammelt um eine festliche Tafel.

Ein wunderschönes Bild. Doch es steckt voller Tücken. Das merkt Britta, als sie ihre Gästeliste aufschreibt. Als erstes notiert sie ihre beste Freundin. Vorsicht: Die muss Gluten-frei essen. Eine andere verträgt keinen Käse. Dann die liebe Kollegin, fast eine Freundin. Sie ist Muslima und wird kein Schweinefleisch essen. Auch Meeresfrüchte sind tabu – wegen ihrer jüdischen Freunde.

Verschiedene Gäste

Britta schreibt weiter an der Liste und notiert ihren Sohn. Dabei erinnert sie sich an die Debatte, die sie kürzlich mit ihm hatte. Es ging um Avocados. Die soll man nicht kaufen, sagte er. Denn die kommen von weit her aus heißen Ländern. Dort verbrauchen sie zu viel vom knappen Wasser. Auf dem langen Weg nach Deutschland dann auch noch zu viel Treibstoff. Weltverantwortung mit dem Einkaufskorb, so nennt er das.

Als nächstes schreibt Britta ihre Tochter auf die Liste. Die wird darauf bestehen, dass es etwas Veganes gibt. Am besten, wird sie sagen, gäbe es gar kein Fleisch. Dann notiert Britta den Namen ihres älteren Bruders. Den hört sie schon frotzeln: „Es wird ja hoffentlich nicht nur Soja-Zeug geben, sondern richtiges Fleisch. Etwas für echte Männer.“ Für seine kleinen Kinder kommt eigentlich nur eine Portion Pommes infrage.

Viele Gäste: Gar nicht so einfach

Britta seufzt: „Ein Festessen mit vielen Gästen ist gar nicht so einfach. Eher eine komplizierte Rallye zwischen Gesundheit und Genuss, zwischen Glauben und Haltung.“ Dieses Problem hat nicht nur sie. Es gehört zum Alltag in vielen Familien, Kantinen und Kitas.

Britta erinnert sich: Schon als sie Kind war, gab es Regeln für das Essen. Ihre Mutter warnte: „Achte auf die richtigen Nährstoffe! Vermeide Ungesundes, das macht dich dick oder sogar krank.“ Oft fiel dann auch der Satz: „Gutes Essen hält Leib und Seele zusammen.“

Heute versteht Britta den tieferen Sinn dieses Satzes besser: Körper und Seele wirken aufeinander ein, sind eins. Deshalb kann Essen auch eine spirituelle Erfahrung sein und mit Gott zu tun haben. Das empfindet Britta intensiv im Gottesdienst beim Abendmahl. Dann nimmt sie mit dem Brot und dem Wein etwas in sich auf das für Jesus Christus steht. So glaubt ihr Körper mit.

Essen ist Kultur, Persönlichkeit und spirituelle Erfahrung

Britta staunt, wie weit die Gedanken wandern, wenn man über das Essen nachdenkt. Dann muss sie lachen, denn ihr fallen die Debatten in ihrer Jugend-Clique ein. Die einen wollten immer zu Meckes, zum Fast-Food. Die anderen wollten gepflegt beim Italiener sitzen. Essen ist eben auch ein Stück Kultur und ein Teil der eigenen Persönlichkeit. Brittas Mutter würde sagen: „Du bist, was du isst.“ Dazu nickt Britta und denkt an ihre Tochter. Denn auf die trifft das in besonderer Weise zu.

Musik: Chick Corea, Childrens Song 9, Striking A Balance (Colin Currie, Sam Walton, Robin Michael)

Brittas Tochter gehört zu den vielen jungen Leuten, die vegan leben. Sie lebt also nicht nur Fleisch-los, sondern meidet jegliches tierische Produkt. Also auch Eier, Milch und Milchprodukte sowie vieles mehr. Schnell hat Britta verstanden: Das engt den Speiseplan ziemlich ein. Viele klassische Gerichte fallen dann weg oder man braucht dafür Ersatzstoffe.

Warum nimmt das Brittas Tochter auf sich? Weil sie nicht einverstanden ist, wie Tiere behandelt und getötet werden. Sie will nicht mitverantwortlich sein für die Massentierhaltung und deren Folgen: für Tierleid und ökologische Probleme. Ihr Lieblingsbeispiel sind die Rinder. Für die Fleischproduktion werden zu viele Rinder gezüchtet. Sie tragen erheblich zur Erwärmung des Klimas bei. Außerdem benötigen sie viel mehr Nährstoffe, als ihr Fleisch später erbringt. Eine schlechte Bilanz.

Essen heißt auch: Verantwortung übernehmen

Wenn Britta an die Gespräche mit ihrer Tochter denkt, glänzen ihre Augen. Denn ihr imponiert deren Eifer: Wie sie sich bewusst als Teil der einen Erde sieht, wie sie Verantwortung übernimmt. Wie sie ihren eigenen Lebensstil kritisch befragt. Dass sie auch über Schuld nachdenkt. Tiere sollen nicht gegen ihre Natur genutzt werden oder gar sterben müssen. Diese Haltung findet Britta edel. Inzwischen kocht sie selbst auch anders. Sie hat entdeckt, wie viele vegane Produkte es mittlerweile gibt. Viele davon schmecken auch lecker.

Doch Britta verzichtet nicht ganz auf das Fleisch. Denn sie denkt: „Wenn alle Menschen vegan leben, würden alle Haustiere aussterben. Denn für Nutztiere ist in diesem Lebenskonzept kein Platz. Das Jahrtausende lange Zusammenleben von Menschen und Tieren würde enden. Das fände Britta schade.

Sie denkt an die Schafe auf den Deichen an der Nordseeküste. Sie denkt an die Ziegen in den griechischen Bergen und an viele Haustiere. Auch an den Ochsen und den Esel im Stall von Bethlehem. Schade, wenn es die nicht mehr gäbe. Lieber tritt Britta dafür ein, dass Nutz- und Haustiere ein besseres Leben haben, eines, das diesen Namen wirklich verdient. Aber Britta hat Respekt vor der Haltung ihrer Tochter.

Wer bin ich am Tisch? 

Sie versteht zudem: Den jungen Leuten geht es nicht nur um die Tiere, sondern auch um sich selbst. Im Vegan-Sein finden sie ihre eigene Identität. Damit wollen sie sich abgrenzen von den Älteren, anders sein als sie. Das machen alle jüngeren Generationen so – jeweils auf ihre eigene Weise. Essen ist eben auch eine Frage der Identität – für die einzelnen und für ihre Gruppe.

Britta ruft ihre Gedanken zurück zu ihren 50. Geburtstag und der Gästeliste. Sie murmelt: „Da wird sich ein vielfältiges Grüppchen um mich herum versammeln.“ Dann überlegt sie: Wird sie sich trauen, zu Beginn ein Tischgebet zu sprechen? Zuhause macht sie das immer - mit ihrer Familie. Alle finden das schön – ein gemeinsamer Anfang, ein Moment zum Innehalten, zum Dankbarsein. Aber kann sie das ihren buntgemischten Gästen zumuten? Da ist sie unsicher.

 Musik: Michael, Jazz Suite Latin, Striking A Balance (Colin Currie, Sam Walton, Robin Michael)

„In den Religionen geht es nicht nur um das Seelenheil im Jenseits, es geht auch um ein heiles Leben im Alltag.“ Diesen Satz hat sich Britta gut gemerkt. Gehört hat sie ihn in ihrer Ausbildung zur Religionslehrerin. Der Satz hat ihr gut gefallen: Glaube und praktisches Leben gehören zusammen. Einschließlich Essen.

Religiöse Speisevorschriften 

Deshalb ist zum Beispiel der Verzehr von Schweinefleisch im Judentum und im Islam verboten. Nicht um die Gläubigen zu gängeln, sondern um sie zu schützen. Denn Schweinefleisch verdirbt schnell. Das ist ein wichtiger gesundheitlicher Aspekt, insbesondere in den heißen Ländern, bevor es Kühlschränke gab.

Das Christentum hat zwar keine festen Speisevorschriften. Dennoch ist es nicht egal, was und wie man isst. Denn wie gesagt: Der Glaube und das praktische Leben hängen zusammen. Damit haben die Christen von Anfang an gerungen. Das kann Britta in der Bibel nachlesen. Es beeindruckt sie, wie der Apostel Paulus versucht, Konflikte darüber zu entschärfen. Mehrmals schreibt er Briefe an christliche Gemeinden, die sich über das Essen streiten.

Dabei ging es noch nicht um moderne Fragen wie Tierwohl und Umweltschutz. Aber die damaligen Christen meinten es mit ihren Themen genauso ernst. Wie sie damit umgingen, ist auch für heute aufschlussreich.

Gemeinsam essen trotz Unterschieden?

Dazu gehört das Stichwort kulturelle Vielfalt. Eine Zerreißprobe für viele christliche Gemeinden war damals die Frage: Müssen alle Christen die jüdischen Speisevorschriften beachten? Unter den ersten Christen stammten viele aus jüdischen Familien. Sie brachten natürlich ihre Lebensregeln mit. Auch die Speisevorschriften. Sie sind in der jüdischen Tradition sehr detailliert und prägen den Alltag erheblich mit. Daran fühlten sich Gläubige anderer Herkunft jedoch nicht gebunden. Wie konnte man trotz der Unterschiede zusammen Gemeinde sein und gemeinsam essen? Was war christlich gesehen richtig?

Heikel war auch die Frage, die die Gemeinden in Korinth und Rom umtrieb: Dürfen Christen Fleisch essen, dass bei nicht-christlichen religiösen Zeremonien übrigblieb. Es wurde danach zum allgemeinen Verzehr angeboten. War es einfach nur Fleisch, das man günstig haben konnte? Oder war dieses Fleisch durch den rituellen Zusammenhang religiös überhöht und für Christen tabu? War der Verzehr vielleicht sogar giftig oder ein Verrat an Gott? Ein Fall für den Apostel Paulus, den theologischen Chefdenker seiner Zeit[1].

 Musik: Jean Francaix, aus L’Horloge de Flore: Zierte A Grandes Fleurs, Bonjour Paris (Albrecht Mayer; Mathias Mönius: Academy Of St. Martin In The Fields)

Müssen sich Christen an religiöse Speisevorschriften halten? Danach wird der Apostel Paulus gefragt. Seine Antwort überlegt er sich sehr sorgfältig. Denn er will weder polarisieren noch vereinfachen. Was er schreibt, kann eine Richtschnur für viele Themen sein. Auch für die heutige Zeit, die so aufgeheizt ist. Als gäbe es nur ein Richtig und ein Falsch. Doch das stimmt oft nicht.

Biblische Empfehlungen für die Tischgemeinschaft 

Paulus stellt bei seiner Antwort Jesus Christus in den Mittelpunkt. Als Vorbild im Leben und als Retter im Tod. Von Christus aus überlegt Paulus: Was ist wirklich wichtig und richtig? Sein Ergebnis: Speisevorschriften schaden nicht, sie helfen aber auch nicht. Denn sie sind bei Christus egal. Für Christus zählt einzig und allein das persönliche JA, der Glaube, also das Vertrauen in ihn. Wer das hat, hat alles, was er oder sie braucht. Und ist damit frei. Frei von Ängsten und sogar vom Schrecken des Todes. Auch frei von kultischen Regeln anderer Religionen. Deshalb kann man als Christ über das Essen verschiedene Meinungen haben. Jeder mag essen, was er will. Jede mag in ihrer Tradition leben. Das klingt nach dem modernem „Soll jeder machen, was er will“.

Fühlt euch frei - aber achtet auch auf andere

Doch Paulus ergänzt einen weiteren Aspekt: Wer an Jesus Christus glaubt, schaut anders auf seine Mitmenschen, ist geprägt von Nächstenliebe. Deshalb ermahnt Paulus die Christen: „Fühlt euch frei. Aber achtet auch darauf, dass ihr mit eurer Freiheit andere nicht beschämt oder bedrückt.“ Denn das würde zur Nächstenliebe und zum Glauben an Christus nicht passen. Wenn man also merkt: Was ich tue, belastet meine Mitmenschen. Dann lasse ich davon einfach die Finger. Aus Rücksicht. Aus Respekt. Aus christlicher Nächstenliebe. Nicht, weil ich muss, sondern weil ich es will.

Britta überlegt, was das für ihr Festessen bedeutet: Vermutlich würde ihr Paulus zu einem Buffet raten. Mit Schildern, was es gibt und was darin enthalten ist. Dann können alle das essen, was sie mögen. Das klingt nach einer klugen Idee. Doch leider ist der Friede an der Festtafel damit noch nicht gesichert.

Musik: Gabriel Fauré, aus Caligula op52. Air de Danse, Fauré: Orchestral Works; Incidental Music [Disc 2] (Michel Plasson: Toulouse Capitole Orchestra)

Britta denkt: „Bei meinem Festessen lasse ich einfach jeden essen, was er will.“ Das klingt einfach, tolerant, friedlich. Und nach der Freiheit, die Paulus meint und Christus schenkt. Aber diese Freiheit hat eben Folgen. Denn sie macht das eigene Leben zu einem Zeugnis für Christus. Dazu passt nicht alles, was man tun kann oder vielleicht möchte. Da spielt auch eine Rolle: Was tut den Mitmenschen gut? Und was kann die Schöpfung verkraften?

Suche nach der eigenen Haltung

Darauf muss Britta Antworten finden. Ihre eigenen Antworten. Denn eine für alle richtige Antwort gibt es nicht. Zugleich ist es nicht egal, welche Antwort man gibt. Man muss sich schon fragen und auch von anderen fragen lassen: „Wie passt dein Verhalten zu deinem Glauben?“ So findet man im Miteinanderreden seinen eigenen Weg. Und der muss nicht automatisch auch für alle anderen der richtige sein.

Das scheint mir gerade heute wichtig zu sein, denn verschiedene gesellschaftliche Gruppen und politische Lager stehen einander oft unversöhnlich gegenüber. Jedes Lager ist überzeugt von der eigenen Sicht. Manche sind sich sicher, dass nur ihre Sicht die einzig richtige für alle ist. Doch das ist längst nicht immer der Fall. Oft lohnt es sich, die aus dem anderen Lager zu fragen. Dann stellt man nicht selten fest: Auch die haben Argumente und Informationen und eine Sicht der Dinge, für die etwas spricht.

Britta überlegt: Wie bekommt man das zusammen? Da ist einerseits meine eigene Haltung. Die gilt für mich selbst und ist mir wichtig. Andererseits gilt für andere: Sie sind frei, manches anders zu sehen.

Abwägen fordert

Das schlichte „Leben und leben lassen“ reicht da nicht mehr, findet Britta. Dafür sind die ökologischen Probleme zu groß und zu drängend. Die bewältigen wir nur, wenn alle mitmachen, die daran ihren Anteil haben. Da kann sich nicht einfach ein Teil der Menschheit zu viele Ressourcen greifen, weil er es kann. Für Britta ist klar: Als Christin will sie nicht mehr beanspruchen als andere. Und nicht die Ressourcen künftiger Generationen verbrauchen. Doch dieser Gedanke überfordert viele. Das erlebt Britta schon bei sich selbst.

Sie seufzt: „Wieder so ein Punkt, an dem ich hinter dem zurückbleibe, was ich selbst von mir erwarte.“ Sie versteht es so: Sie bleibt angewiesen auf Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Zugleich erkennt sie, wohin Gott sie bewegen will.

Bitte um Barmherzigkeit

Britta ist erschöpft von ihren vielen Gedanken. Zugleich ist sie davon erfüllt. Sie beschließt: Darüber wird sie bei ihrem Geburtstag eine Tischrede halten. Dann wird sie ein Tischgebet sprechen, ein Dank für das Essen und eine Bitte um Barmherzigkeit. Danach wird sie ein Buffet eröffnen. An dem werden bestimmt viele Gäste miteinander ins Gespräch kommen - über leckeres Essen zwischen Genuss, Haltung und Glauben.

Musik: Fahimi Alqhai, Canarios, A piacere: Music for Viola da Gamba (Fahmi Alqhai, Pablo Martin) 

 


[1] 1. Korinther 8, Römer-Brief Kapitel 14