hr2 MORGENFEIER
hr2
Cornelius-Bundschuh, Dr. Jochen

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

00:00
00:00

Gewissheit in unsicheren Zeiten

Ich will mich sicher fühlen. Ich freue mich, wenn ich entspannt durch die Kassler Fußgängerzone gehen kann. Ich genieße es, nach Hause in eine vertraute Atmosphäre zukommen. Ich bin dankbar, dass meine Kinder in Frieden aufgewachsen sind, und hoffe, dass auch meine Enkel noch auf dieser Erde in Frieden leben können.

Sicherheit und Verlässlichkeit sind wichtig in unserem Leben

Sicherheit und Verlässlichkeit sind wichtig. Aber die Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine und das Erschrecken, wie schnell wir die Folgen des Klimawandels zu spüren bekommen, haben viele verunsichert. Wie sie frage ich mich: Wie wird es weitergehen? Tragen meine Überzeugungen noch?

Paulus stand vor dem Scherbenhaufen seines Lebens

Im Neuen Testament berichtet Paulus in einem Brief an die Philipper davon, wie er plötzlich vor einem Scherbenhaufen stand: Alles, worauf er sich verlassen hatte, zerbrach. Als guter römischer Bürger und frommer Jude hatte er die neue Sekte der Christenmenschen verfolgt. Er sah sie als Aufrührer, die die herrschende Ordnung umstürzen wollen: Sie setzen sich für die Rechte der Armen ein. Sie fordern Freiheit und Würde für alle. Sie behaupten, dass Jesus, den die Römer gekreuzigt hatten, von Gott auferweckt wurde. Sie stellen alles in Frage, was Paulus bis dahin Sicherheit gegeben hat.

Musik: Johann Sebatian Bach, Klavierkonzert d-moll, BWV 1052, 1. Allegro

"Warum verfolgst du mich?"

Auf der Straße nach Damaskus ereignet sich das, was Paulus verunsichert. Ein grelles Licht kommt vom Himmel; er stürzt. Aber es ist niemand zu sehen. Nur eine Stimme ist zu hören: Warum verfolgst du mich?

Drei Tage lang ist Paulus blind. Seine Sicherheit ist weg. Aber dann fasst er wieder Vertrauen zu Gott und gewinnt im Glauben eine neue Gewissheit. Von dieser Wende erzählt er im dritten Kapitel des Philipperbriefs:

Was mir Gewinn war, erachte ich nun um Christi willen für Schaden. Ja, ich erachte es (…) für Dreck, auf dass ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde. Ich verlasse mich nicht auf meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern auf die Gerechtigkeit, die durch den Glauben an Christus kommt. (…) Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden – und so seinem Tode gleich gestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.

Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach und vertraue, dass ich’s wohl ergreifen kann, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung nach oben durch Gott in Christus Jesus. (Philliper 3, 7-14)

Paulus' persönliche "Zeitenwende"

Paulus berichtet von seiner persönlichen „Zeitenwende“. Er war römischer Bürger. Deshalb konnte er frei reisen, so wie wenn er heute mit einem US- oder EU-Pass unterwegs wäre. Die römischen Legionen schützten ihn. Außerdem hatte er durch seinen Beruf als Zeltmacher ein sicheres Auskommen. Und er war sich seiner Überzeugungen sicher; er wusste, was er zu tun und zu lassen hatte.

Bis er vor Damaskus diesem Licht begegnet – und dieser Stimme. Er stürzt und weiß nicht wieso. Er ist blind und weiß nicht mehr, wo es lang geht. Die Sicherheiten, auf die er sich bisher verlassen hat, helfen ihm nicht mehr. Sein Einkommen, seine Kontakte, seine Überzeugungen: alle seine Sicherungen sind nichts mehr wert. Was nun, wenn die eigene Welt plötzlich Kopf steht?

Musik: Heinrich Schütz,  „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“,  SWV 415

Verunsicherung heute durch Pandemie, Krieg und Klimawandel

Manche von uns haben die Pandemie als eine starke Verunsicherung erlebt, gerade viele Ältere, viele Kinder und Jugendliche: Nicht mehr in die Schule oder in die Kindertagesstätte gehen. Sind die anderen wirklich eine Gefahr? Meine Mutter konnte es fast nicht ertragen, dass nur noch ich sie im Altersheim besucht habe. Noch heute belasten die Pandemie und ihre gesundheitlichen, aber auch psychischen und sozialen Folgen viele Menschen.

Für andere war der russische Überfall auf die Ukraine so ein Einschnitt; müssen wir jetzt Angst haben vor einem Krieg? Und wieder andere sind verzweifelt darüber, wie schnell sich die Lebensbedingungen auf diesem Planeten verschlechtern. Vieles steht auf einmal in Frage. Auch die eigenen Überzeugungen, über die ich mir doch so sicher war, kommen ins Wanken.

Ein Gefühl der Hilflosigkeit

Mit am meisten verunsichert das Gefühl, dass wir wenig tun können und uns als ohnmächtig erleben: Wir haben uns sicher gefühlt und gedacht, wir haben ein gutes Gesundheitssystem. Dann kam die Corona-Pandemie und auf einmal stand das alles in Frage. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat die Regeln, die sich die Weltgemeinschaft nach dem 2. Weltkrieg gegeben hat, endgültig aus den Angeln gehoben. Sie sollten dafür sorgen, dass nie wieder ein Unrechtsregime die Macht ergreift und die Welt in einen Krieg stürzt; aber jetzt scheint wieder Macht vor Recht zu gehen – und militärische Gewalt gilt wieder als legitimes Mittel der Politik. Und zehn Jahre nach dem Pariser Klimaabkommen gelingt es immer noch nicht, den Klimawandel einzudämmen und die Biodiversität zu sichern. Hilflos erleiden wir extreme Trockenheit oder Starkregen.

Verantwortung füreinander übernehmen, respektvoll miteinander umgehen, die Schwachen schützen, Konflikte zivil bearbeiten, Verträge einhalten, die Welt gerechter, nachhaltiger und friedlicher gestalten – darauf habe ich gebaut. Was gilt in Zukunft?

Musik: Heinrich Schütz,  „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“,  SWV 415 

Es gibt keine einfachen Lösungen!

Menschen suchen Sicherheit. Deshalb haben diejenigen politischen Kräfte Zulauf, die rufen: „Wählt uns! Wir haben die Lösung für die Krise! Wir wissen, wer schuld ist! Wir machen euer Leben wieder sicher!“

Ich glaube diesen Stimmen nicht. Ich glaube, wer so redet, macht uns und wahrscheinlich auch sich etwas vor! Denn die Probleme sind kompliziert. Es gibt kein einfaches zurück zu schwarz oder weiß. Es gibt keine einfachen Lösungen! Und alle Versuche, Probleme zu Lasten der Menschen zu lösen, die sowieso schon in Not sind, weil sie auf der Flucht sind oder arm; sie werden nicht helfen und widersprechen dem Geist Christi.

Auch Paulus hatte keine sofortige Lösung parat

Paulus behauptet nicht, eine Lösung zu haben. Das gefällt mir! „Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei“, schreibt er. Aber er zieht sich auch nicht in eine religiöse Sonderwelt zurück und sagt: Die Welt und ihre Sicherheiten sind mir egal! Auch das wäre ja eine Möglichkeit gewesen.

Nein, Paulus hat nach seiner großen Verunsicherung eine neue Gewissheit gewonnen. Diese Gewissheit ermöglicht ihm, sich mutig, frei und ohne schnelle Antworten den großen Herausforderungen und Ambivalenzen zu stellen, die die Menschen damals beschäftigen.

Woher kommt diese neue Gewissheit und was zeichnet sie aus? Es ist ein neues Gottvertrauen. Paulus ist sich gewiss: Jesus Christus begleitet ihn im Leben und im Tod. Er verlässt sich nicht länger auf das, was er oder andere tun können, um die aktuellen Unsicherheiten zu überwinden. Stattdessen vertraut er seine Sorgen und Ängste Christus an. Paulus versucht nicht mehr, alles selbst im Griff zu haben. Er lässt sich von der Kraft Christi ergreifen und mitreißen.

Mit Gottvertrauen in die Zukunft

Dieses Gottvertrauen trägt ihn in seinen Unsicherheiten. Es ermöglicht ihm, sich nach vorne auszustrecken und sich den Herausforderungen zu stellen, die vor ihm liegen. Denn er vertraut fest darauf: Christus geht mit!

In diesem Glauben ruft er die Starken auf, respektvoll mit denen umzugehen, die in Not sind und den Schwachen zu ihrem Recht zu verhelfen. In diesem Geist setzt er sich für eine Kirche und eine Welt ein, in der alle Menschen trotz all ihrer Unterschiede und ihrer Fremdheit in Frieden miteinander leben; in der jede Person mit ihrer Würde zu ihrem Recht kommt.

Paulus überwindet seine Verunsicherung. Er entdeckt: Im Glauben kann ich mich allen Herausforderungen stellen. Gottvertrauen macht mutig und frei! In dieser Gewissheit können wir als Christenmenschen und als Kirchen die Welt auch in unsicheren Zeiten mitgestalten.

Musik: Johann Sebastian Bach, Klavierkonzert d-moll, BWV 1052, 2. Adagio

Glaubensgewissheit bedeutet nicht Sicherheit

Glaubensgewissheit ist nicht dasselbe wie Sicherheit. Sie ist etwas sehr Persönliches, zu dem ich selbst einen Zugang finden muss. Das kennen Sie aus der Liebe: ich kann mir meiner Liebe gewiss sein, aber nicht sicher; ich habe sie nicht im Griff. Die Liebe ist ein Geschenk und verletzlich und gerade darin lebendig und stark. Ich liebe die andere Person und entdecke ihre wunderbaren, aber auch ihre schwierigen Seiten. Und umgedreht ist es genauso. Wie und ob die Liebe gelingt, das können wir nicht kontrollieren, das haben wir nicht in der Hand.

Glaubensgewissheit ist nicht dasselbe wie Sicherheit. Sie hat den Glauben nicht sicher in der Hand. Sie kontrolliert ihn nicht, sondern lebt aus der Erfahrung, dass Gott uns in ihm die Kraft gibt, die Welt im Geist Christi zu gestalten. Sie überwindet das Gefühl: „Ich kann ja doch nichts tun!“ Sie macht Mut zu widersprechen, wenn gegen Fremde gehetzt wird. Sie sucht zivile Lösungen für Konflikte, auch zwischen Staaten. Sie macht sich stark für unsere Demokratie.

Glaubensgewissheit vertraut sich der Bewegung Gottes an, aber sie bleibt angefochten. Sie wird die skeptischen Fragen der anderen und die eigenen Zweifel nicht los. Wer meint, den Glauben selbst fest in Händen halten zu können und zu müssen, irrt. Wer Gewissheit mit Sicherheit verwechselt, riskiert die Kraft und die Lebendigkeit der Gottesbegegnung. Schon die ersten Freundinnen und Freunde Jesu haben das erlebt, gerade an Ostern. Der auferweckte Christus ließ sich nicht festhalten. Er war nicht mehr greifbar. Aber weil viele einander erzählten, wie sie ihm begegnet sind und wie sein Geist sie bewegt hat, breitete sich der Glaube aus. Wahrscheinlich kann niemand für sich allein glauben, dass einer auferweckt wird und dadurch der Tod seine Macht über alle Menschen verliert. Wir brauchen einander im Glauben.

Musik: Johann Sebastian Bach, „Tue Rechnung, Donnerwort“, BWV 168, 6. „Stärk mich mit deinem Freudengeist“

Paulus hat in Damaskus Menschen getroffen, die ihm halfen seinen Glauben zu finden

Wir brauchen einander, um uns in unserem Gottvertrauen zu stärken. Paulus hat in der Gemeinde in Damaskus Menschen gefunden, die ihm zu verstehen halfen, was da auf dem Weg mit ihm geschehen war. Sie waren in seiner Verunsicherung für ihn da. Sie haben Paulus mit den Augen Gottes als Christen und Mitbruder gesehen, obwohl er sie vorher verfolgt hat. Sie haben ihn überzeugt, dass Jesus den Verheißungen und Geboten der hebräischen Bibel nicht widersprochen, sondern sie erfüllt hat und sie für alle Menschen zugänglich gemacht hat. Sie haben ihn spüren lassen, wie der Glaube Feindschaft überwindet und Gerechtigkeit und Frieden schafft.

Glaubensgewissheit braucht damals wie heute Menschen, die einander erzählen, dass die Liebe Gottes treu bleibt; auch wenn wir nicht so sind, wie wir sein sollen oder wollen – auch wenn wir in unseren Zweifeln feststecken. Sie braucht die Gemeinden, ihre Lieder und Gebete, ihre Predigten. Sie stärken uns in unserem Vertrauen, dass Christus mit uns geht und für uns einsteht.

Glaube macht frei und mutig

Paulus hat aus diesen Erfahrungen Konsequenzen gezogen. Seine vornehmste Aufgabe sah er nun darin, andere in ihrem Gottvertrauen zu stärken. Er ist durch das Land gereist, hat in vielen Gemeinden gepredigt und viele Briefe geschrieben: Glaube macht frei und mutig, sich im Geist Christi den Herausforderungen zu stellen. Das war die Mitte seiner Predigt!

Im Römerbrief hat er sie in einprägsamen Worten zusammengefasst. Sie stärken und begleiten bis heute viele Menschen, gerade auch in unsicheren Zeiten, im Leben und im Sterben: "Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn". (Römer 8, 38f.)

Musik: Johann Sebastian Bach, Klavierkonzert d-moll, BWV 1052, 3. Allegro