hr2 MORGENFEIER
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Joachim, Doris

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Referentin für Gottesdienst im Zentrum Verkündigung, Frankfurt

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Was bleibt, wenn alles anders wird?

Sprecher: Jochen Nix
Musikkonzeption: Uwe Krause

Was bleibt, wenn alles anders wird? Mich beschäftigt das. Jetzt, wo man von einer Zeitenwende spricht. Wo es Krieg gibt in Europa und Inflation und eine Seuche, die einfach nicht weggeht, und die Erde sich erwärmt und die Menschheit es nicht schafft, das aufzuhalten. Was bleibt? Was gibt Sicherheit? Was hilft gegen die Angst?

Fragen, die, vor allem in Zeiten von Krisen, immer wieder im Leben auftauchen

Die Fragen sind nicht neu. Es sind alte Fragen. Sehr alt. Die gibt es nicht nur in Krisenzeiten, sondern immer schon. Auch ganz persönlich, ganz privat. In mir jedenfalls. Nicht dauernd und zu jeder Zeit. Aber immer mal wieder. Da ploppen sie auf. In Umbruchzeiten, an Schwellen, wie jetzt zum Beispiel. Wo ich seit gut drei Wochen im Ruhestand bin. Ganz banal – so könnte es scheinen, verglichen mit den politischen Krisen, die gerade herrschen. Und doch berührt mich das.

Was ist wirklich wichtig?

In den letzten Wochen an meiner Arbeitsstelle, da habe ich in meinem Büro und vor dem Computer gesessen und habe aussortiert: Was soll bleiben? Was kann weg? Ich bin nicht so gut im Wegwerfen. Und finde Dateien und Bücher und Ordner – Sachen, die mir mal wichtig waren. Sind sie es noch? Was ist wirklich wichtig? Entscheidungen müssen getroffen werden. Manche tun weh. Manche erleichtern. Ich hab‘ viel Zeit dafür gebraucht. Und das war gut so.

Was bleibt von mir übrig?

Die ganze Aufräumerei hat mich flugs in existenzielle Überlegungen katapultiert. Was bleibt von mir übrig? Die Frage war plötzlich da. Ist auch kein Wunder. Sowas kommt mit dem Alter. Aber diese Frage hat mich schon in jüngeren Jahren manchmal angesprungen. Ich glaub, das geht vielen so. Ist ja auch wichtig. Immer wenn sich was ändert im Leben – und das passiert dauernd – da braucht es einen Boden, der bleibt. Sicherheit und Halt.

Wie finde ich das Gute, das bleiben soll?

Nicht alles, was bleibt, ist hilfreich. Neue Wege finden sich nicht, wenn man auf alten Pfaden weitergeht – womöglich in eine falsche Richtung oder rückwärts. Also: Wie finde ich das Gute, das bleiben soll? Und wie werde ich los, was nicht bleiben soll? Auf der Suche nach Antworten habe ich auch in die Bibel geschaut. Das hat mir geholfen. Davon will ich erzählen.

Musik 1

Das Wort "bleiben" in der Bibel

Was bleibt, wenn alles sich ändert? Ich habe in der Bibel nachgeschaut und nach dem Wort „bleiben“ gesucht. Das kommt ziemlich oft vor. Und auch ähnliche Wörter wie „immer“ oder „ewig“ oder „dauernd“. Der erste Text, über den ich gestolpert bin, ist Kohelet im Alten Testament. Kohelet – das heißt übersetzt: Sammler. Kohelet ist ein Mensch zu biblischen Zeiten, der sammelt Weisheiten und Beobachtungen. Und was er sammelt und beobachtet – das macht meist keinen Spaß. Ein Nieselpriem ist er, ein Miesepeter – so würde ich meinen. Ein Pessimist.

Kohelet, der Miesepeter

Sein Blick auf die Welt ist meist düster. Und zwar nicht deswegen, weil sich alles ändert, sondern weil sich alles wiederholt, eben auch das Schlechte. Die Welt bleibt, wie sie ist. Und es gibt nichts Neues. Mir kommt das bekannt vor. Das passt in unsere Zeit, wo vieles düster ist. Kohelet meint: „Es ist alles ganz eitel.“ Das Wort „eitel“ bedeutet ursprünglich nicht: eingebildet, selbstverliebt, sondern: leer, vergeblich. Die Passage bei Kohelet klingt so:

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen. Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie dort wieder aufgehe. (…) Und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. (…)  Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: „Sieh, das ist neu!“ – Es ist längst zuvor auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. (Prediger 1, 2 - 6 + 9-10)
Da pries ich die Toten, die schon gestorben sind, glücklicher als die Lebenden, die noch das Leben haben. Und besser daran als beide ist, wer noch nicht geboren ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne geschieht. (Prediger 4, 2+3)

Alles ist Mist

Alles ist eitel – so übersetzt es Luther. Man könnte auch sagen – ganz nah am hebräischen Text: „schlecht“ oder „nichts“ oder „Mist“. Genau das will Kohelet ausdrücken. „Alles Mist“ – so spricht ein Mensch in der Krise. Kein Blick mehr für das Gute. Kein Gefühl für die Freude. Überhaupt kein Gefühl. Man tritt auf der Stelle und fühlt sich ausgeliefert. Dem Bösen, das immer wiederkehrt, und der Sinnlosigkeit. Müssen wir uns Kohelet als einen unglücklichen und depressiven Menschen vorstellen? Kann sein.

Bosheit und Hass sind schon immer in der  Welt

Es ist vielleicht seltsam, aber irgendwie tröstet mich das. Alles, was uns gerade so furchtbar beutelt – das hat es immer schon gegeben und ist auch immer wieder vergangen. Bosheit, Hassreden, Kriege, Raffgier, sogar die Sorge, dass die Welt untergeht – es ist nichts Neues unter der Sonne. Und Menschen leiden daran. Immer schon. Die Bibel ist voll von Klage und Not. Ich fühle mich diesem Kohelet nah. Irgendwie verbunden. Sein Missmut zieht mich jedoch nicht nur runter. Er zieht mich auf den Boden der Tatsachen. So ist die Welt. So ist das Leben. Es gibt viel Böses. Mir macht das sehr zu schaffen. Aber anderen auch. Ich bin nicht allein mit diesem Mist. Das hilft – jedenfalls etwas.

Kohelet sucht auch nach dem Guten

Und noch etwas anderes hilft. Kohelet bleibt nicht in der Depression. Er sucht trotz allem nach dem Guten, das bleibt. Er schreibt nämlich auch:

Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er den Menschen die Ewigkeit, das Immer, in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. (Prediger 3, 11-13 nach der Lutherübersetzung und der Bibel in gerechter Sprache)

In der Bibel gibt es viel Hoffnung und Zuversicht

Die Bibel ist nicht nur voll von Klage und Not, sondern auch voll von Hoffnung und Zuversicht. Wie sonst sollte man dem Bösen widerstehen? Wie sonst sollten wir überleben, Kinder in die Welt setzen, mutig bleiben, neue Wege gehen und für Frieden einstehen? Bei Kohelet überwiegt zwar die Klage. So ist das manchmal, wenn wir durch dunkle Täler gehen, wie in diesen Zeiten.

Etwas, das Halt gibt und Sicherheit: die Ewigkeit im Herzen, das Immer

Aber Kohelet, der Sammler von Weisheit und Erkenntnissen, findet etwas, das Halt gibt und Sicherheit: die Ewigkeit im Herzen, das Immer. So will ich es auch tun. Mich sammeln und suchen. Mit der Ewigkeit im Herzen, mit dem Immer in mir – gehe ich durch das immer Gleiche. Immer Krieg. Irgendwo. Immer Hunger. Irgendwo. Immer Ungerechtigkeit. Irgendwo. Und natürlich frage ich mich: Was nutzt das Immer im Herzen? Wenn sich nichts ändert. Wenn kein Immer-Frieden kommt. Kein Immer-Lachen. Keine Immer-Freude. Immer das Gleiche?

Die Ewigkeit in mir fühlen

Ich schaue es an, das Immer im Herzen. Die Ewigkeit in mir. Kostbar und zart. Stark und geschmeidig. Von Gott in mich hineingelegt. In jeden Menschen. Schwer zu beschreiben, was das genau ist. Der Kern eines Menschen? Das wahre Selbst? Ein göttlicher Anteil? Die Seele vielleicht? Ebenbilder Gottes sind wir. Das sagt die Bibel. Geliebt in Ewigkeit. Vielleicht ist es das, was bleibt von mir. Von einem jedem Menschen. Mir gibt das Sicherheit und hilft gegen die Angst. Jedenfalls etwas. Denn manchmal schüttelt und beutelt es mich, was um mich herum geschieht. Politisch oder auch persönlich. Dann will ich sie fühlen: die Ewigkeit im Herzen. Die geht nicht weg. Sie verbindet mich mit Gott und mit anderen. Sie liebt und lacht. Sie isst und trinkt. Und steht auf gegen das Böse. Und manchmal – da macht sie Musik.

Musik 2

Musik bleibt, sie berührt und bewegt und wärmt die Seele

Was bleibt an Gutem, wenn alles anders wird? Musik bleibt. Und zwar deswegen, weil sie berührt und bewegt. Sie bringt uns ins Fließen und in Aktion. Und nährt die Hoffnung. Klar – es kommt auf die Art der Musik an. Kampflieder meine ich jetzt nicht. Sondern die zarten Töne, die die Seele wärmen.

Auf der Suche nach Hoffnung finde ich im Internet ein Video mit dem Titelmotiv des Films „Schindlers Liste“. Der niederländische Geiger Edmond Fokker steht in einer dunklen Ruine und spielt diese Filmmusik, die mich ergreift. Er spielt für die Menschen in der Ukraine.

Musik 3

Die Titelmelodie des Films "Schindlers Liste" birgt Hoffnung

Diese Musik ruft in mir zuerst die Bilder der Judenvernichtung in Nazi-Deutschland hervor. Sie lässt mich den Schrecken fühlen über das Böse, das Menschen getan haben, im Namen meines Volkes. Sie bringt mir die Menschen wie Oskar Schindler vor Augen und viele andere, die sich dem Bösen widersetzt haben. Die jüdische Menschen gerettet haben und dabei ihr eigenes Leben riskierten. Die dafür gesorgt haben, dass das Grauen ein Ende hatte.

Das bleibt eben auch: Solidarität, Mut, Liebe. Musik bewegt mich. Sie verbindet mich mit denen, die im Elend sind. Mit denen, die nicht aufgeben. Und mit den Toten. Auch mit denen. Diese Musik bringt mich zum Weinen. Und gleichzeitig spüre ich, wie ein kleiner Widerstand in mir seine Flügel ausbreitet und sich erhebt. Ich glaube: Es sind auch die Tränen, aus denen Kraft zum Leben wächst. Eine Frau aus der Ukraine kommentiert die Musik. Sie schreibt an den Geiger Edmond Fokker:

„Danke, Edmond. Danke so sehr. Ich bin bewegt. Du hast uns ein Beispiel gezeigt, wie ein Mensch uns helfen kann, in diesem furchtbaren Krieg zu überleben. Du und viele andere bringen Licht in diese Welt. Möge Frieden sich durchsetzen.“

Musik hilft überleben

Musik, die überleben hilft. Da ist auch Vera Lytovchenko. Die junge Frau hat sich mit vielen anderen in einem Bunker in Charkiw vor russischen Angriffen versteckt. Sie greift zu ihrer Geige und beginnt zu spielen. Oder Illia Bondarenko. Er steht in einem Bunker in Kiew. Er beginnt zu spielen. Und 94 Violinisten aus 29 Ländern spielen mit. Verbunden durch das Internet.

Singen als politischen Protest in Estland

Solidarität durch Musik – auch aus dem kleinen Estland. Die Esten haben gemeinsames Singen immer auch als politischen Protest gegen jedwede Fremdherrschaft verstanden. So auch Ende der achtziger Jahre gegen die sowjetische Besatzung ihres Landes. Da begann die sogenannte „Singende Revolution“ auf Tallins Straßen. Demonstrationen waren verboten. Volkslieder singen nicht. Und so trafen sich Hundertausende Esten auf dem Talliner Sängerfeld und sangen traditionelle Lieder.

Heute singen die Esten für die Ukraine

1991 akzeptierte die zerfallende Sowjetunion die Unabhängigkeit Estlands. Das ist aktuell in Bezug auf die Ukraine leider anders. Aber die Esten singen wieder. Jetzt für die Ukraine. Auf demselben Sängerfeld. Ein ukrainisches Volkslied. Tausende Menschen haben sich versammelt. Ein riesiger Chor. Sie singen ein Volkslied, das als Marsch gedacht war. Aber die Esten singen es getragen und langsam und mit großem Ernst. Sie singen für die Ukraine. Und sie singen für sich selbst. Denn sie haben Angst vor dem großen Nachbarn Russland. Sich versammeln und singen – das hilft ein wenig. Ich sehe das am Bildschirm und bin berührt.

Trost in Düsternis. Lieder schaffen nicht den Krieg ab. Aber sie berühren die Ewigkeit im Herzen. Wie anders soll Frieden werden?

Musik 4

Wo ist mein Ort in dieser Zeit?

Was bleibt an Gutem? Was gibt Sicherheit? Was hilft gegen die Angst? Diesen Fragen bin ich nachgegangen. Eine steht noch aus, die mich gerade besonders beschäftigt: Was bleibt von mir? Wo soll ich bleiben? Wo ist mein Ort in dieser Zeit? Ich habe gesucht. Und einen Psalm gefunden. Den 91. Mir hilft er.

Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt
und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,
der spricht zum EWIGEN:
Meine Zuversicht und meine Burg,
mein Gott, auf den ich hoffe.
Denn er errettet dich vom Strick des Jägers
und von der verderblichen Pest.
Er wird dich mit seinen Fittichen decken,
und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln.
Seine Wahrheit ist Schirm und Schild,
dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht.
(Psalm 91,1-5a)

Sich unter Gottes Schirm in den Schatten setzen

Da also – da will ich mich hinsetzen – unter Gottes Schirm. Da ist mein Ort. Vor der Sonne geschützt. Denn die kann brennen. Das ist gefährlich. Sonnenbrand und Sonnenstich. Der Körper trocknet aus. Die Erde auch. Bäume sterben. Oder brennen. In Kalifornien und Sibirien. In Südeuropa und Brandenburg. Und nicht nur das. Auch anderes gibt’s: Erhitzte Gemüter. Glühender Hass. Im Netz und am Stammtisch. Sogar in unseren Parlamenten. Als hätten wir nichts Besseres zu tun. Mir macht das Angst. Und dann ist da auch mein eigenes kleines Leben. Wo die Frage manchmal brennt: Wie wird mein Leben weitergehen in diesen Krisen?

So also sitz ich da – im Schatten Gottes. Und der ist groß. Also der Schatten und sicher auch Gott. Von Flügeln ist da die Rede. Flügel Gottes. Eine komische Vorstellung: Gott mit Flügeln. Mit Flügeln kann man fliegen. Braucht Gott das? Vielleicht nicht zum Fliegen. Aber zum Schatten machen. Und Menschen bedecken, die erschrocken sind vor dem Grauen der Nacht. So sagt es der Psalm. Menschen in Angst – sie können sich bergen. Unter Gottes Flügel kriechen. Wie Küken das tun.

"Zuflucht wirst du haben unter Gottes Flügeln"

Ich mach das manchmal. Wenn mein eigener Schirm nicht reicht. Wenn Löcher drin sind. Oder der Wind ihn umklappt. Das geht ja schnell. Dass die Spannkraft fehlt. Da schützt mein Schirm nicht vor der Sonne. Und auch nicht vor Regen. Dann suche ich Gottes Schirm. Und lese diesen Psalm zum Beispiel. Immer mal wieder, laut oder leise: „Zuflucht wirst du haben unter Gottes Flügeln.“ Flügel, die mich schützen. Ein sicherer Ort. Das hilft. Ich weiß nicht genau, wie. Und doch gibt das Kraft für den Weg, der vor mir liegt. Denn da ist jemand. Größer als ich. Liebevoll mit sanfter Wärme. So kann ich aufstehen. Gegen die Hitze. Gegen den Hass. Für die Schöpfung und für die Menschen. So kann ich mein Leben aufräumen, das Gute behalten und nach Neuem suchen. Wie gut, dass es sie gibt: Schirme und Flügel. Von Gott für uns. Das bleibt. Immer und ewig.

Musik 5