Pfingsten - das unscheinbare Wunder
Pfingsten beginnt mit einem Wunder, bei dem ich erst einmal nachfragen muss: Was soll hier das Wunder sein? Normalerweise erwarte ich bei Wundern Spektakuläres: Das Meer teilt sich, so dass ein ganzes Volk trockenen Fußes hindurch ziehen kann. Jemand, der von Geburt an gelähmt war, kann plötzlich laufen. Ein Mensch geht übers Wasser und befiehlt Wind und Wellen, dass sie Ruhe geben sollen. Das sind ordentliche Wunder.
Was ist das Wunder an Pfingsten? Auf den ersten Blick passiert an Pfingsten nicht viel. Eine Schar Frauen und Männer hat sich vor Angst in den eigenen vier Wänden verbarrikadiert. Auf einmal trauen sie sich wieder hinaus auf die offene Straße, reden vor allen Leuten über das, was ihr Glaube ist.
So erzählt es die Bibel von den Jüngerinnen und Jüngern Jesu. Sie hatten mit Jesus viel erlebt. Mehr als sie verkraften konnten. Jesus war vor ihren Augen als Staatsfeind und Gotteslästerer verhaftet und gekreuzigt worden. Er war tot. Doch dann erzählen zuerst die Frauen unter ihnen, dann auch die Männer: Jesus lebt. Er ist von den Toten auferstanden. Sie können ihn sehen, mit ihm essen, ihn anfassen. Dann wieder ein Abschied: Jesus fährt in den Himmel auf. Aber er verspricht: Ihr seid nie mehr allein. Gott sendet euch den Heiligen Geist. Der gibt euch Mut, in die ganze Welt hinaus zu gehen. Der Heilige Geist tröstet, wenn ihr Trost braucht.
Und tatsächlich, so erzählt die Bibel: An Pfingsten geschieht ein Brausen vom Himmel. Ein gewaltiger Wind bläst durch das Haus, in dem die Freunde Jesu sitzen. Die Jünger sind auf einmal Feuer und Flamme und fangen an, von ihrem Glauben an Jesus Christus zu erzählen. Auf einmal versteht das jeder in Jerusalem, egal was seine Muttersprache ist, ob Hebräisch, Griechisch, Latein oder Ägyptisch.
Das kommt den Leuten in Jerusalem Spanisch vor. Sie fragen: Sind die da besoffen und lallen in allen möglichen Sprachen oder warum verstehen wir, was sie sagen, jeder in seiner Muttersprache? Das Wunder von Pfingsten ist, was zwischenmenschlich geschieht. Es beginnt klein und unscheinbar: Menschen bekommen neuen Mut. Sie finden Trost. Und sie verstehen einander.
Neuer Mut. Trost. Den anderen verstehen. Einer, der einen feinen Sinn für diese Wirkung des Heiligen Geistes hatte, ist Paul Gerhardt, evangelischer Pfarrer im 17. Jahrhundert und einer der großen deutschen Dichter. Tröstelieder werden seine Gedichte genannt. Raus aus dem Haus, in das man sich vor Trauer oder Angst verkrochen hat. Neuen Mut, neue Freude am Leben suchen. Was die Jünger Jesu an Pfingsten erlebt haben, das klingt in einem Lied von Paul Gerhardt so. Die Schauspielerin Monika Hessenberg liest die erste Strophe und dann hören wir das Lied, gesungen von einem vierstimmigen Chor.
Geh aus, mein Herz, und suche Freud
in dieser lieben Sommerzeit
an deines Gottes Gaben;
schau an der schönen Gärten Zier
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben.
Musik 1: Geh aus, mein Herz, Strophe 1-3
Geh aus, mein Herz, und suche Freud. Paul Gerhardt hat diesen großen Sommergesang gedichtet. Es ist kein Pfingstlied. Aber es beschreibt, wie Pfingsten wirkt: Geh aus, mein Herz! Ein Herz, das sich verschlossen hatte, kommt in Bewegung. So wie in der biblischen Pfingstgeschichte der Heilige Geist den Jüngern Trost und Mut gibt. Er treibt sie hinaus auf die Plätze der Stadt, hinein ins Leben.
Paul Gerhardt, der Dichter von „Geh aus, mein Herz“, lebte im 17. Jahrhundert. Er hat wenig gute und viele böse Zeit erfahren. Dreißig Jahre Krieg. Vom 11. bis zum 43. Lebensjahr von Paul Gerhardt. Mit 14 war er Vollwaise. Später muss er vier seiner Kinder zu Grabe tragen. Nur ein Sohn überlebt. Ein Leben im Ausnahmezustand, gezeichnet von Krieg, Krankheit und Tod. Und dieser Mensch stellt sich hin und singt ein Sommerlied: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit!“ Ist der noch ganz bei Trost? Nicht ganz. Aber er sucht Trost. Wahrscheinlich ist es so: Gerade die Menschen, die durch die tiefsten Täler gegangen sind und in die dunkelsten Abgründe geblickt haben, wissen, was tröstet. Sie können besonders viel weitergeben von ihrer Erfahrung, wie sie Trost gefunden haben.
„Geh aus, mein Herz!“, dichtet Paul Gerhardt. Es ist wie ein Gespräch mit sich selbst. Er sagt zu seinem Herzen: Bleib nicht länger auf dir sitzen! Sonst erstickst du in der Enge von Trauer und Angst. Geh raus! Suche Freude! Das haben die Jünger Jesu an Pfingsten gebraucht. Sie saßen fest ohne Jesus. Der Mensch, der das Leben leuchten ließ, war weit weg. Geh aus, mein Herz, und suche Freud! Das ist leichter gesagt als getan. Wenn man am liebsten im Keller verschwinden will, wenn einem das Herz bleischwer ist und die Gedanken finster, woher soll da die Kraft kommen, um Freude zu suchen?
Und trotzdem: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit!“ Paul Gerhardt schickt sein Herz in die Weite. Allein bei sich selbst findet er keinen Trost. Es ist schwer, sich selbst zu trösten. Sich die Tränen abwischen, das geht noch. Aber sich in den Arm nehmen? Eher nicht. Also schaut Paul Gerhardt dorthin, wo er Trost und neue Freude finden kann: auf die Gärten, die jetzt blühen, auf Bäume, Narzissen und Tulpen.
Paul Gerhardt erzählt davon, was auch die Jünger von Jesus an Pfingsten erlebt haben: Der Trost findet dich. Und auf einmal, wo alles grau und tot erschien, kannst du die Welt mit neuen Augen sehen: in ihren Farben, in ihrer Schönheit, mit den Tieren und all dem Leben, das draußen auf dich wartet. So dichtet Paul Gerhardt:
Die Lerche schwingt sich in die Luft,
das Täublein fliegt aus seiner Kluft
und macht sich in die Wälder;
die hochbegabte Nachtigall
ergötzt und füllt mir ihrem Schall
Berg, Hügel, Tal und Felder.
Musik 2: Geh aus, mein Herz, Strophe 3 nach der zweiten Melodie
Paul Gerhardt, der Dichter dieses Liedes, richtet seinen Blick auf die Blumen im Garten, auf das satte Grün der Wiesen und Bäume. Er öffnet sein Ohr für die Laute der Lerche, das Gurren der Taube, auf den Gesang der Nachtigall. Es ist pure Freude an der Natur. Und es ist noch mehr. Wie Paul Gerhardt die Natur beschreibt, das klingt eigentlich gar nicht fromm. Und doch verbirgt sich hinter jeder Strophe, wie Gottes Heiliger Geist in der Welt wirkt. Der Sommer ist nicht nur Sommer, sondern reich an Gottes Gaben. Die Gärten blühen nicht einfach nur vor sich hin. Sie haben sich für dich und mich so ausgeschmückt.
Das Lied ist wie eine Einladung: Schaut her! Da ringsum uns herum in der Natur – so ist unser Gott! Und das tut er alles für uns, für dich und mich. Sein Heiliger Geist weckt uns alle Sinne, damit wir sehen können: Überall in der Welt begegnet uns Gott. In seiner Schöpfung findet alles seinen Platz. Auch du und ich. Zu Gottes Schöpfung gehören das Werden und Vergehen, das Jubilieren, aber auch wenn die Kräfte nachlassen und wir Abschied nehmen müssen. Dazu gehört der Tod, aber seit Jesus Christus auch: Wir werden auferstehen zu neuem Leben. Das ist Gottes großes Tun. So besingt es Paul Gerhardt.
Ich selber kann und mag nicht ruhn,
des großen Gottes großes Tun
erweckt mir alle Sinnen;
ich singe mit, wenn alles singt,
und lasse, was dem Höchsten klingt,
aus meinem Herzen rinnen.
Musik 3: Geh aus, mein Herz, Strophe 7+8
Das Lied kommt sommerlich leicht daher. Und doch werden darin ernste Töne angeschlagen.
Doch gleichwohl will ich, weil ich noch
hier trage dieses Leibes Joch,
auch nicht gar stille schweigen;
mein Herze soll sich fort und fort
an diesem und an allem Ort
zu deinem Lobe neigen.
Den eigenen Körper wie ein Joch empfinden und trotzdem singen, ja sogar sich zu Gottes Lob verneigen? Eine steile Strophe. Und doch gibt es diese Erfahrung. Eine Frau in der Mitte ihres Lebens ist an Krebs erkrankt. Sie wurde operiert, bestrahlt und hat Chemotherapie überstanden. Nun ist sie wieder zuhause und tastet sich zurück ins Leben. Sie ist noch schwach, schafft es gerade mal raus auf den Balkon. Ihr Blick fällt auf eine Pflanze im Blumentopf. In der Zeit der Krankheit hatte sie keinen Sinn dafür, sich um sie zu kümmern, sie zu gießen und zu düngen. Und trotzdem: Die Pflanze trägt Blüten. „Sie blüht“, denkt die Frau. „Und ich werde auch leben.“ Die Pflanze blüht – trotzdem. Trost und Trotz gehören zusammen. Trost trotzt dem, was das Leben niederhält.
Ein Trost, der über den Schmerz hinweggeht, ist keiner. „Das wird schon wieder!“ oder „In der Krise liegt die Chance“ – solche Durchhalte-Parolen helfen wenig. Manches wird nicht wieder. In der Krise liegt nicht nur die Chance, sondern auch die Gefahr zu scheitern und unterzugehen. Jesus Christus hat seinen Jüngern versprochen: Gott sendet euch den Heiligen Geist, den Tröster. Der Tröster-Geist ist einer, der sich nicht mit dieser Welt abfindet. Trost hilft, die Kreuze zu tragen, die uns auferlegt sind. Trost spricht in uns: Trotzdem! Trotzdem kannst du festhalten an der Hoffnung, dass du leben und blühen darfst.
Der Mensch wie eine Pflanze, die blüht und Früchte trägt. So dichtet Paul Gerhardt jetzt weiter. Mensch und Natur gehen ineinander über.
Hilf mir und segne meinen Geist
mit Segen, der vom Himmel fleußt,
dass ich dir stetig blühe;
gib, dass der Sommer deiner Gnad
in meiner Seele früh und spat
viel Glaubensfrüchte ziehe.
Mach in mir deinem Geiste Raum,
dass ich dir werd‘ ein guter Baum,
und lass mich Wurzeln treiben.
Verleihe, dass zu deinem Ruhm
ich deines Gartens schöne Blum
und Pflanze möge bleiben.
Musik 4: Orgelimprovisation
„Verleihe, dass zu deinem Ruhm ich deines Gartens schöne Blum und Pflanze möge bleiben.“ Manche Mutter sagt zu ihrem Kind: „Du bist mir vielleicht eine Pflanze!“ Was für eine Pflanze in Gottes Garten sind Sie, welche Pflanze bin ich? Wenn ich mir die Menschen in meinem Leben vor mein geistiges Auge führe, dann habe ich den Eindruck: Der Geist Gottes ist einfallsreich! Jede und jeder hat natürlich auch anstrengende Seiten. Vor allem aber sind wir alle gesegnet mit Gottes Gaben. Auch mit der Gabe der Heiligen Geistes, einander beizustehen und zu trösten.
Trösten – wie macht man das? „Mach in mir deinem Geiste Raum“, dichtet Paul Gerhardt. Trösten beginnt damit, dass ich Raum lasse. Raum für den anderen, der Trost braucht. Der beste Trost ist: Einer ist für mich da, schenkt mir seine Zeit und Aufmerksamkeit. Heißt für mich, wenn ich tröste: Ich höre zu, ohne dem anderen gleich meine Geschichten überzustülpen, ohne ihm Ratschläge zu geben. Zuhören ist die wichtigste Gabe des Tröstens. Dafür braucht es manchmal nicht viel: der Satz „Ich koch uns erst mal Kaffee“. Die kurze Nachricht: „Ich denke an dich“ oder „ich bete für dich“.
Manchmal braucht es gar keine Worte: Die Hand, die die Hand des anderen hält. Eine Umarmung, so wie Vater und Mutter ihr Kind trösten. Dann spüre ich: Der andere ist bei mir. Wir gehören zu einer Trost-Gemeinschaft. So ist Kirche, wenn der Heilige Geist in ihr wirkt: eine Gemeinschaft von Menschen, die Anteil nehmen, die mit den Lachenden lachen und mit den Weinenden weinen. Vielleicht gibt es Lösungen für das Problem, die wir gemeinsam finden können. Auf manchen schweren Schicksalsschlag gibt es keine Antwort. Auch dann kann ein anderer Mensch für mich da sein. Mir beistehen, dass ich mein Leid tragen kann.
„Mach in mir deinem Geiste Raum.“ Es hängt Gott sei Dank nicht allein von mir ab. Ich kann dem Geist Gottes in mir Raum lassen. Ich hoffe auf seine himmlischen Einfälle. Trost übersteigt beide: den, der tröstet, und den, der Trost braucht.
Musik 5: Ernest Bloch aus: Deux poèmes pour orchestre – Frühling
Pfingsten. Das Fest des Heiligen Geistes. Wo kommt der Heilige Geist in meinem Leben vor? Wie zeigt er sich – als Geistesblitz, himmlischer Einfall, Intuition, als Trost? Pfingsten erzählt davon, dass Gottes Geist in der Welt ist, mitten in unserem Leben.Für mich ist der Heilige Geist unterwegs, wo ich das rechte Wort finde, um jemandem Mut zu machen. Ich habe einen Impuls und rufe spontan einen Freund, eine Kollegin an. Es stellt sich heraus, dass er oder sie diesen Anruf gerade in diesem Moment gebraucht hat. Eine kleine Aufmerksamkeit, eine Kurznachricht, eine Postkarte, eine Geste, die ich einem anderen zukommen lasse und selber vielleicht gar nicht für so wichtig halte. Für denjenigen oder diejenige jedoch kam es genau zur rechten Zeit.
Solche Zufälle kennen natürlich auch Menschen, die nicht an Gott glauben und mit dem Heiligen Geist nichts anfangen können. Für mich sind es echte Zufälle im Sinne von: Es fällt mir zu. Es ist wie ein Impuls von oben, ein kleiner Wink des Himmels.
Ich erlebe und verstehe das so: Der Heilige Geist wirkt, wenn ich mit meinem Geist, und mag er mir noch so klein vorkommen, andere begeistere. Ich bin eher ein lautstarker Mensch. Aber es muss nicht immer das große Getöse sein. Es gibt Menschen, die durch ihre geistvolle Ruhe sich selber und anderen guttun.
Und auch so kann der Heilige Geist am Werk sein: Menschen, die völlig verschieden voneinander sind, erleben, wie sie erstaunlich gut übereinstimmen und sich miteinander verbunden fühlen. Das ist ein Pfingst-Erlebnis.
Der Heilige Geist ist vielfältig unterwegs und er weht, wo er will. Er ist Leben. Ein Leben, das größer ist als die Zeit zwischen Geburt und Tod. Das meint jedenfalls Paul Gerhardt.
„Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit.“ Sein Lied hat diese Morgenfeier zum Pfingstsonntag begleitet. Mit der „lieben Sommerzeit“ ist eigentlich die Ewigkeit gemeint. „Schau an der schönen Gärten Zier“, dichtet Paul Gerhardt. Wenn er die Gärten beschreibt, klingt das Paradies mit, das wir verloren haben und aus Gottes Gnade wieder gewinnen. Den Windhauch und das Brausen von Pfingsten gibt es nicht erst im Paradies. Ich finde es wundervoll, wenn ich schon jetzt und hier Gottes Geist entdecke, die Fingerzeige auf Gottes Tun. In jeder Blume, in Bäumen und Bächen, im Flug der Lerche und im Gesang der Nachtigall. Gottes Geist in mir. Gottes Geist in den anderen. Da gibt es noch viel Geist zu entdecken, bis es am Ende heißt:
Erwähle mich zum Paradeis
und lass mich bis zur letzten Reis
an Leib und Seele grünen,
so will ich dir und deiner Ehr
allein und sonsten keinem mehr
hier und dort ewig dienen.
Musik 6: Antonio Vivaldi: Konzert für Flöte, Str. und B.C. in der Fassung für Vibraphon und Streicher