Unendlichkeit ist angehaltene Zeit
Musik 1 (Edvard Grieg)
Von magischen Momenten möchte ich Ihnen heute Morgen erzählen, woher sie kommen und was sie uns bedeuten können.
Ja, es gibt solche „magischen Momente“. Wenn man jemandem sagt: Ich liebe Dich; oder wenn ein Kind zur Welt kommt; wenn die letzte Prüfung geschafft ist oder der Verein das alles entscheidende Spiel gewinnt. Es gibt „magische Momente“, Augenblicke, in denen die Zeit zwar nicht stehen bleibt, aber doch einen Augenblick so tut, als ob - und am liebsten auch stehen bleiben sollte. Fast jeden Tag gibt es die irgendwo. Dann möchten wir, dass alles immer so bleibt, wie es gerade ist.
Vielleicht empfinden wir einfach auch schon so, wenn es nach einer langen Nacht ein wenig heller wird und dann endlich die Sonne aufgeht.
Musik 2 (Edvard Grieg)
Magische Momente kann man nicht planen. Sie kommen, oder sie kommen nicht. Manchmal weiß man, dass sie kommen könnten – und dann kommen sie doch nicht. Manchmal hofft und betet man sie gleichsam herbei – und Gott erhört nicht. Magische Momente kann man nicht einplanen wie die nächste Gehalts- oder Rentenzahlung auf dem Konto. Dafür sind sie aber noch wertvoller: Die Zeit bleibt kurz stehen, jedenfalls erscheint es uns oft so; und dann, wenn sie vorüber sind, wünschen wir uns diesen Moment immer wieder zurück; den einen Moment, in dem die Zeit scheinbar stehen blieb und alles, alles gut war. In solchen Augenblicken, Stunden oder Tagen wünscht man sich nur eins: Unendlichkeit.
Musik 3 (Refrain des Liedes: Tage Wie Diese)
„An Tagen wie diesen, wünscht man sich Unendlichkeit An Tagen wie diesen, haben wir noch ewig Zeit.“
Davon soll jetzt die Rede sein - von einem großen, magischen Moment in der Mitte unserer Zeit, etwa im Jahr 25 nach der Geburt Jesu, einem Moment, in dem die Zeit stehen bleibt.
Am Fluss Jordan in Israel ereignet sich Folgendes:
(Tatjana Geselle):
Es könnte später Morgen oder schon Mittag gewesen sein. Die Sonne scheint, es ist ziemlich warm. Bis zu den Hüften im Wasser steht einer im Fluss Jordan und redet. Er heißt Johannes, das wissen die Leute; Johannes mit dem Beinamen „der Täufer“. Er redet laut. Am Ufer des Flusses stehen ein paar Dutzend Frauen und Männer, die Johannes zuhören. Er hat einen Ruf, nicht nur einen guten. Es heißt, er sei radikal, dabei ehrlich, und unerbittlich. Das sieht man ihm auch ein wenig an. Er kleidet sich in Kamelhaarfelle, übernachtet in Felsenhöhlen und ernährt sich von dem, was die nächsten Büsche an Früchten hergeben. Und von wildem Honig. Das alles weckt nicht unbedingt Vertrauen, aber doch viel Neugier. Was will der Mann?
Er will etwas, was heute altmodisch klingt oder sogar überholt, wie manche meinen. Er will Buße. Johannes steht bis zu den Hüften im Wasser des Jordan und predigt: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.Manche schütteln den Kopf, lachen vielleicht auch über den seltsamen Mann und seine seltsame Rede. Von einem Himmelreich, das nahe herbeigekommen ist, kann man weit und breit nichts sehen oder erkennen. Das kann Johannes allerdings nicht beirren. Er predigt weiter – und dann tut er noch etwas: Er tauft. Er bittet die Menschen zu sich, die ihm seine Worte glauben, und taucht sie im Wasser des Jordan unter zum Zeichen ihrer neuen Reinheit. Und sagt, während er tauft, so liebevoll wie deutlich: Seht zu, dass ihr rechtschaffene Früchte der Buße bringt.
Eigenartig ist das alles. Es sieht seltsam aus, es klingt seltsam, und doch liegt da noch etwas in der Luft. Man kann es nicht fassen, auch kaum beschreiben, geschweige denn erklären. Aber etwas liegt in der Luft. Langsam bewegen sich die wartenden Menschen auf Johannes zu. Einen nach dem anderen tauft er. Und sagt noch: Ich taufe euch (nur) mit Wasser. Der aber nach mir kommt, wird euch taufen mit Heiligem Geist und mit Feuer.
Verstehen kann das keiner. Und eben weil man es nicht versteht, liegt ein Geheimnis in der Luft, als käme bald ein ganz großer Moment, für alle hier am Fluss und zugleich für die ganze Welt.
Musik 4 (Refrain des Liedes: Tage Wie Diese)
Es ist heiß am Jordan. Menschen hören zu, wie und was Johannes redet. Etliche lassen sich taufen. Manche drehen sich aber auch um, sind verstört oder unsicher und gehen nach Hause.
Über allem aber liegt ein Geheimnis, als warte man auf einen magischen Moment. Und der kommt jetzt auch:
(Tatjana Geselle):
Langsam rückt die Schlange vor zu Johannes. Jeden und jede taucht er unter im Namen Gottes und bittet um rechtschaffene Früchte. Er droht nicht nur, sondern weist auch den Weg zum richtigen Leben: Seid gerecht zueinander. Gebt Gott die Ehre. Wo es eine Weile lang laut und viel Gemurmel war, wird es auf einmal immer stiller. Als bliebe die Welt stehen. Ein junger Mann steht vor Johannes. Er ist so alt wie Johannes, etwa 25 Jahre, schlank, freundlich. Es sieht aus, als wolle er getauft werden wie alle anderen. Johannes aber zögert, will ihn nicht taufen. Wir wissen nicht, was ihn hindert. Bis Johannes es selber sagt: Nein, sagt er, dich taufe ich nicht. Ich müsste von dir getauft werden. Da sagt der fremde junge Mann nur: Johannes, lass es jetzt geschehen, taufe mich jetzt.
Beide stehen im Wasser, Johannes zögert. Aber dann tauft er ihn.
Der Mann steigt wieder aus dem Wasser. Es ist immer noch ganz still, als bliebe die Welt stehen. Das tut sie auch. Mitten in der Stille ist es, als öffne sich der Himmel über dem Mann und als komme ein besonderer Geist auf ihn wie eine Taube. Was für ein Schauspiel.
Aber immer noch nichts gegen den Moment, der jetzt kommt. Eine Stimme erklingt wie vom Himmel und sagt über diesen jungen Mann:Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.
Ein heiliger Moment, als bliebe die Welt stehen. Der Jude Johannes tauft den Juden Jesus - und Gott selbst gibt seinen Segen dazu. Jetzt hat die Welt eine völlig andere Richtung.
Musik 5 (Edvard Grieg, längere Fassung)
Vielleicht gibt es in der langen Welt- und Glaubensgeschichte keinen heiligeren Moment als diesen, liebe Hörer. Der Jude Johannes bittet seine Menschen, umzukehren und in ihrem Leben rechtschaffene Früchte zu bringen. Dann weist er hin auf einen, der nach ihm kommt und das alles noch deutlicher und noch gottesgewisser zur Sprache bringen wird. Und eben dieser Mann Jesus steht dann vor ihm, will von Johannes getauft werden und hört von Gott selbst: Du bist mein Sohn. Und die ganze Welt hört bis heute: Das ist mein Sohn.
Welch ein magischer Moment, ein heiliger Augenblick. Heiliger geht es kaum noch. Als bliebe die Welt stehen.
Das tut sie auch. Und erhält eine völlig andere Richtung. Denn der Mann Jesus, der dann fast zwei Jahre durch Palästina und Israel wandert, erzählt Geschichten von Gott und davon, was mein Leben und unser aller Leben lebenswert macht: dass wir wertvoll sind, dass wir lieben können. Unter allen Umständen. Und dass Liebe nicht einfach Liebe ist, sondern viel mehr. Liebe hält die Zeit an. Liebe schenkt Augenblicke der Unendlichkeit. Liebe ist mehr als Gernhaben. Liebe ist, was die Zeit überdauert.
Wir lieben, weil wir nicht sterben wollen.
Wir lieben, damit wir bei Gott bleiben; im Leben und nach diesem Leben.
Davon erzählt das Lied „Alle Zeit der Welt“, das nun auf Englisch erklingt. Wer liebt, hat alle Zeit der Welt, kennt magische Momente und heilige Augenblicke.
Musik 6 (Louis Armstrong: „We Have All The Time In The World”)
Wer liebt, wer geliebt wird, ist wertvoll und hat alle Zeit der Welt. In diesem Augenblick ist es wie für immer. Beim nächsten Mal wieder. Und immer ist es, als fühle man sich schon im Himmel.
Davon erzählt auch die Geschichte der, nennen wir sie Steffie:
(Tatjana Geselle):
Das Leben verstehen ist einfach, sagt Steffi. Sie muss es wissen. Sie hat viel Leben gehabt in ihren gut vierzig Jahren. Zwei Ehen, zwei Kinder, die Eltern bewirtschaften noch ihren Bauernhof mit Eifer und Mühe. Steffi fährt Auto. Teilt Essen auf Rädern aus. Sonst hilft sie Älteren, die nicht mehr alleine können. Das Geld reicht ihr. Leben verstehen ist einfach, sagt Steffi. Man muss nur wissen, worum sich alles dreht. Alles im Leben. Da gibt es nur eins: Im Leben dreht sich alles um Wert. Jeden Tag, jede Stunde. Man muss nur sehen, wie Menschen sich anschauen. In ihren Augen liegt immer die Frage: Ist der andere schöner, jünger, reicher? Bin ich klüger, hübscher, eleganter? So geht es zu, sagt Steffi, überall, wo Menschen sich treffen. So viele Lebensjahre, aber immer nur eine Frage: Was bin ich wert? Wem bin ich wertvoll? Kann ich mithalten? Solange man sich wertvoll fühlt und das auch hört, sagt Steffi, ist alles im grünen Bereich. Ernst wird die Lage, wenn es nicht mehr läuft wie geschmiert. Wenn einen Kinder oder Ehepartner verlassen, die Arbeit gekündigt wird; wenn die Beine nicht mehr wollen oder der Kopf nachlässt. Dann fragt man heftiger: Was bin ich wert, wenn mir weniger gelingt? Bin ich noch wichtig, wenn ich gepflegt werden muss?
Selbst im Heim will man gut sein oder gesünder oder beliebter als andere. Das braucht man zum Leben: Wertvoll sein. Die Frage hört nie auf, sagt Steffi.
Die Antwort auch nicht. Steffi weiß ihre Antwort. Schlimm ist nur, sagt sie, wenn man sich selber antworten muss. Das geht nicht gut. Sich selbst unterschätzt man leicht. Oder überschätzt sich. Man kann sich selber nicht wertvoll machen, sagt Steffi nach zwei Ehen, die ihr misslingen. Wert muss von außen kommen. Das ist das Beste, was man bekommen kann im Leben, egal ob alt oder jung, gesund oder krank. Jeder Mensch braucht einen, mindestens einen, der dir jeden Tag einmal sagt: Du bist mein Schatz, ich habe dich lieb. Oder es nicht sagt, aber dem zeigt, der hilflos im Bett liegt: Du bist mir wichtig. Das ist das Glück, sagt Steffi, der ganze Lebenssinn: Lieben wollen, geliebt sein, wertvoll sein. Irgendwie, irgendwem. Dann fühl‘ ich mich im Himmel.
Musik 7 (Refrain des Liedes: Tage Wie Diese)
Wertvoll sein, lieben wollen, geliebt sein - dann fühlt man sich schon wie im Himmel. So einfach ist das. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Vielleicht auf dem Papier - aber im Leben?
Im Leben liegen viele Steine im Weg. Gehässigkeiten, die man austeilt oder bekommt; Widrigkeiten, die man herbeiführt oder erleiden muss; sehr gut gemeinte Pläne, die dann schief gehen oder andere einem zunichte machen; und natürlich Fahrlässigkeiten und Fehler, die Menschen machen und sich selbst oder anderen damit Schaden zufügen. Das Leben ist nicht so einfach, wie es manchmal klingt. Da helfen dann auch die schönsten „magischen Momente“ und die Stunden oder Tage der Unendlichkeit nicht so viel. Da ist Verzweiflung näher als Hoffnung und Schwermut näher als Zuversicht.
Aber es gibt ja noch den Glauben. Immer.
Den Glauben daran, dass nichts so schlimm ausgehen muss, wie es scheint und nichts so ärgerlich bleiben muss, wie es heute ist. Es gibt immer die Hoffnung, dass ich mit meinen Schmerzen oder den Fehlern, die ich gemacht habe, nicht alleine bin. Und es gibt die Liebe, die mich ein Stückchen weiter tragen kann als die Schwermut. Auch das Leben der Steffi ist sicher kein Zuckerschlecken. Trotzdem lebt sie und hofft immer wieder auf den einen, magischen Moment: Ein Mensch sagt mir, dass er mich lieb hat und ich nichts dafür tun muss. Ein Mensch zeigt mir, dass ich ihm wertvoll bin, auch wenn ich nichts mehr oder nichts Besonderes mehr vollbringe. Das ist, als ginge der Himmel auf, nur kurz, und es ist wie für immer. Der Glaube ist dann kein Glaube mehr, sondern wird wahr. Wunderbar ist das. Und lebensnotwenig.
Und warum soll ich das glauben? Warum hilft dieser Glaube?
Musik 8 (wie Musik 1)
Warum hilft der Glaube an die Liebe und an meine Fähigkeiten zur Liebe? Dafür gibt es zwei Gründe. Den einen nennt der deutsche Schriftsteller Martin Walser (in seiner Novelle: Mein Jenseits). Er ist bestimmt kein Schwärmer und kennt die Widrigkeiten der Welt und des Lebens. Dennoch schreibt er den wunderbaren Satz:
Aber dass der Glauben die Welt schöner macht, das stimmt doch.
Ja, das stimmt. Der Glaube macht die Welt einfach schöner. Zuversicht ist eben freundlicher als Schwermut; Hoffnung trägt besser als Verzweiflung.
Und der zweite Grund ist, wie könnte es anders sein, Jesus selbst. Er war - im guten Sinn des Wortes - beseelt davon, Menschen zu achten, sogar die, die es nicht gut mit ihm meinten. Und seit seiner Taufe durch Johannes den Täufer in den Wassern des Jordan war er überzeugt: Die Taufe ist eine Liebeserklärung Gottes an mich. Gott traut mir das Leben zu, auch wenn es widrig ist. Er schenkt mir Zuversicht, wenn ich sie nur will und ihn darum bitte. Gott traut mir das Leben zu – in Liebe.
Liebe ist ein magischer Moment; Alle Liebe ist Anhalten der Zeit, Anfang der Unendlichkeit.
Musik 9 (Tage Wie Diese)