hr2 MORGENFEIER
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Wöllenstein, Helmut

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Marburg

Alle werden gebraucht

Alle werden gebraucht

„Zu Pfingsten hat man frei“, schreibt ein Theologe zum heutigen Tag. An den anderen Festtagen sind die Gottesdienste relativ gut besucht. In fast allen Häusern findet man die Symbole wie den Weihnachtsbaum oder die Ostereier. Man feiert zusammen als Familie. Doch an Pfingsten weiß kaum noch jemand, was gefeiert wird. An diesen Feiertagen macht man, wozu man Lust hat.

Das muss ja nicht schlecht sein. Viele, die frei haben, fahren auch ins Freie. Ein guter Freund zum Beispiel fährt, wenn er Zeit hat, spätabends bei klarem Wetter gern aufs Land. Weit weg von der Stadt, dahin wo es ganz dunkel ist. Dort baut er sein Teleskop auf und schaut in den Himmel. Stundenlang kann er draußen da sitzen, ganz allein. Als ich frage, was ihn daran so fasziniert, sagt er: Drei Dinge, das erste ist die Stille. Er weiß, oben im Weltall ist es ganz still. Da gibt es keine Luft und damit auch keine Schallwellen. Wenn er hinaufschaut, fühlt er sich berührt und aufgenommen von der großen Stille. Das zweite ist eine kaum zu beschreibende Empfindung von Zugehörigkeit: Das Weltall, die Erde und er selbst sind eins. Alles gehört zusammen. Hier draußen erlebt er besonders intensiv die Verbindung mit dem großen Ganzen. Und das dritte ist, sich die unvorstellbare Weite vorzustellen. In Gedanken hinaus zu wandern in die Unendlichkeit, sich zu freuen an dem Lichterspiel, am schimmernden Glanz der Sterne, an der Vielfalt der Galaxien und Nebel, der Sonnen und Monde. Die Kraftfelder der kosmischen Energien zu ermessen, die das Maß der Materie vielfach übertreffen. In diesen Nächten lerne ich etwas über Gott, sagt er, Gott wird für mich immer größer, immer weniger zu begreifen, ein Geheimnis, das alles Bescheid-Wissen übersteigt.

MUSIK

Die biblische Pfingstgeschichte erzählt eine ähnliche Erfahrung - wenn auch ganz anders. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu sind nicht draußen im Freien, sondern in einem Haus, in Jerusalem, alle zusammen in einem engen Raum. Sie schauen nicht zum Himmel, sondern lassen die Köpfe hängen. Ihr Traum hat sich in ein Trauma verwandelt. Sie waren Jesus nachgefolgt. Ein ganz neues Leben hatten sie angefangen, spannend und intensiv. Nun ist er nicht mehr da. Gestorben, auferstanden und in den Himmel aufgefahren, wie sie erzählen. Wie können sie diese Enttäuschung verkraften, wie ihren Glauben bewahren? Durchhalten heißt ihre Strategie, dichthalten, zusammenhalten, sich absichern. Bloß jetzt kein Risiko eingehen. Keiner verlässt unsere Gemeinschaft, und kein Fremder wird eingelassen. So sitzen sie da zusammen am helllichten Tag, Türen und Fenster und Herzen verschlossen.

Und doch kommt jemand herein. Die Apostelgeschichte berichtet: „Es geschah ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache?“

Der Heilige Geist kommt über die Jüngerinnen und Jünger wie eine kosmische Kraft, völlig unerwartet. Sie bricht ein in das Haus, durchdringt Dach und Mauern. Wie ein Sturm, wie ein Brausen, schreibt Lukas - oder doch wie ein Feuer? Wie Flammen, die sich zerteilen und jede und jeden einzelnen von ihnen entzünden? Der biblische Autor sucht nach Bildern. Wie kann er schreiben über dieses grundstürzende Ereignis, das die ängstlichen Jünger 50 Tage nach Ostern völlig verwandelt? Welche Kraft muss da am Werk sein? Für Lukas gibt es nur eine, die in Frage kommt. Die Kraft, aus der alles hervorging. Ohne die nichts ist, was ist. Diese Energie, die schon ganz am Anfang im Spiel gewesen sein muss, als Himmel und Erde entstanden. Die Schöpferkraft, der Hauch Gottes, der allem Leben den Atem gab.

Welchen Sinn hat es, heute noch in den alten biblischen Bildern von einer Schöpferkraft zu reden? Unsere Wissenschaftler sehen im Universum ganz andere Kräfte am Werk, und zwar dieselben seit Milliarden von Jahren, als die Welt entstand. Das heißt, die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, sie geschieht immer noch. Auch heute. Jetzt in diesem Augenblick sind Sterne dabei zu verlöschen und andere sind im Entstehen. Ein ständiges Werden und Vergehen. Nur die Gesetze, die dabei gelten, sind gleich geblieben. Ein höherer Plan ist für uns nicht zu erkennen. Oder doch? Das Chaos, zum Beispiel, ist immer wieder zu erkennen, das sich allen Plänen und Berechnungen entzieht. Und immer wieder der rätselhafte, wunderbare Vorgang, dass aus dem Chaos neue Ordnungen, neue Gestalten, neue Himmelskörper hervorgehen.

Gott und das Chaos, man meint, diese beiden Kräfte schließen sich gegenseitig aus. Ein Konzept von Religion ist es jedenfalls, das Chaos zu bannen. Menschen erwarten von ihrem Glauben, dass er ihnen hilft, ein Leben ohne Chaos zu führen - oder doch gegen das Chaos zu bestehen. Ihr Glaube soll sie vor bösen Überraschungen schützen, Unglück abwehren. Ein religiöses Leben kann sein wie ein Kosmos, in dem alles wohl geordnet ist, eine Welt für sich, die einem Geborgenheit gibt. Immer mehr Leute finden es heute attraktiv, eine Auszeit im Kloster zu nehmen. Regelmäßiges Beten und Singen, Rituale nach festen Zeiten und Ordnungen begehen, klare Regeln beachten und Gutes tun. Damit verbunden die uralte Vorstellung, so könne man Gott auf seine Seite bringen und hätte eine Garantie, vor den Wechselfällen des Lebens bewahrt zu sein.

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Ein anderes Konzept von Religion enthält die Pfingstgeschichte. Die Jüngerinnen und Jüngern müssen mit einer Niederlage fertig werden. Ihre Welt ist aus den Fugen, ist kein geordneter Kosmos mehr. Ihr Versuch, in einem Mikrokosmos durchzuhalten, dicht zu machen, sich abzuschotten vor dem Leben draußen macht es nur schlimmer. Da kommt Gott zu ihnen und zeigt sich ganz anders als sie erwarten: Ein Brausen, Sturm, Feuer. Doch was zunächst aussieht wie der Anfang einer Katastrophe, bewirkt genau das Gegenteil von Zerstörung. Es gibt einen Aufbruch. Die Jünger werden durchflutet von diesem Energiefluss. Die Angst fällt von ihnen ab. Sie öffnen sich und gehen hinaus in die Stadt. Sie trauen sich, wildfremde Menschen anzusprechen aus anderen Völkern, Rassen und Religionen. Jede und jeder versteht sie in der eigenen Muttersprache. Die Worte von der Liebe Gottes, die allen Menschen gilt ohne Unterschied, erreichen die anderen. Juden ,Griechen und Araber, Frauen und Männer. Alle können sich öffnen füreinander, sind bewegt und kommen in Bewegung. Viele wollen zu dieser neuen Gemeinschaft gehören. 3000 lassen sich an einem Tag taufen, wird berichtet.

Aus dem Trauma der Jünger wird ein Traum von Leben. Menschen die bisher aneinander vorbeireden, verstehen sich. Lukas berichtet nicht kühl und sachlich, sondern will zum Staunen anstiften, wenn er sagt: Hier ist Gottes heilige Schöpferkraft am Werk. Endlich erfüllt sich, was Generationen vorher herbei gesehnt haben: Gott wird seinen Geist ausgießen auf alle Menschen, eure Töchter und Söhne werden eine neue Zukunft sehen und eure Alten werden Träume haben, und es werden Zeichen geschehen an Sonne, Mond und Sternen. Lukas öffnet uns die Augen dafür, dass es dieselbe Schöpferkraft ist, die überall wirkt, im Großen wie im Kleinen, im Weltall wie in den Herzen der Menschen. Als ein ständiger Prozess von Chaos und neuer Ordnung. +Eine Galaxie zerfällt zu Staub und aus dem Staub entsteht eine neue.

Pfingsten ist das Fest der alles durchwirkenden, alles belebenden Gotteskraft. Pfingsten heißt, Gottes Geist ist auf dem Weg zu uns. Zu jeder, die glaubt und zu jedem, der nach Glauben sucht. Zu Kirchen und Gemeinden. Zu denen, die auf den Geist warten, und zu denen, die sich eingeschlossen haben und mit nichts mehr rechnen. Gottes Geist kennt keine Grenzen. Er weht wo er will. Hier und da, hüben und drüben. Zur Zeit der Apostel und heute. Wo Altes abbricht, lässt er Neues aufbrechen. Es ist so, als würde er gerade den Zwischenraum aufspüren, den „toten Punkt“, die Leere zwischen dem, was einmal war und dem, was noch entstehen muss.

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Zum Beispiel in einer Kirchengemeinde. Eine Gruppe ist nicht mehr lebensfähig. Seit Jahren hat man sich getroffen, doch jetzt merken alle: Es ist vorbei. Oder ein Chor kann nicht mehr singen, weil nur noch wenige kommen und ihre Stimmen alt geworden sind. Eine spricht es aus: Wir machen Schluss. Schmerzlich ist das und zugleich erlösend. Da fällt es jemanden ein, und es kann ihm auch erst jetzt einfallen, dass er sagt: Kommt, wir fangen neu an. Wir machen etwas ganz anderes. Ein Fest, ein Suppenfest. Wir laden Leute ein, die sonst nie kommen. Alle Ausländer, die schon so lange hier wohnen, auch die, die keine Christen sind. Alle bringen Suppe mit, die beste, die sie kochen können, nach ihren eigenen typischen Rezepten. Erst wird gelacht im Ort: Was soll das denn, ein Suppenfest? Aber die Leute kommen. Spendieren Suppen, gehen herum, lassen sich anziehen vom Duft der Gewürze, Griechinnen, Marokkaner, Türkinnen, Italiener, sie probieren, loben, ziehen die Nase kraus, erzählen, lachen. Keine Frage, das Suppenfest wird nächstes Jahr wieder gefeiert. Man ist Gast und Gastgeberin, beides zugleich. Vieles läuft chaotisch, fröhlich, improvisiert. Wunderbar.

Und ähnlich geht es mit dem kleinen Chor. Er hat sich aufgelöst. Jetzt gibt es keinen Kirchenchor mehr in der Gemeinde. Wie soll man jetzt den Konfirmationsgottesdienst feiern? Soll man etwa den gemischten Chor einladen. der nie etwas mit der Kirche zu tun hatte und dessen Qualität… na, schweigen wir lieber? Zaghaft wird der andere Chor eingeladen. Etwas verlegen sitzen sie dann in der Kirche, die Sängerinnen und Sänger, von denen manche schon lange nicht mehr an diesem Ort waren. Sie wundern sich, wie gut das klingt, wenn sie in diesem Raum singen, und wie andächtig zugehört wird. Sie merken, sie brauchten neue Lieder fürs nächste Mal. Und es gibt ein nächstes Mal. Schließlich werden sie gebraucht. So lernen sie extra Gospels für die Kirche und sogar einen Choral. Und diejenigen vom Kirchenchor, die merken, dass sie ohne Singen wirklich nicht leben können, singen jetzt mit im gemischten Chor. Nach Jahrzehnten geht in einem Dorf zusammen, was lange nebeneinander, oft gegeneinander lief.

MUSIK

Aus Stillstand wird Aufbruch. Aus Scheitern ein Anfang. Chaos verwandelt sich und bringt neue Formen hervor, vielerlei Formen, unterschiedliche, kreative. Der Apostel Paulus spricht von den Gaben des Heiligen Geistes. Sie sind jedem und jeder gegeben, ganz individuell, wie es der eigenen Natur entspricht, der Veranlagung eines Menschen und seiner Ausbildung. Wer lehrt, soll recht lehren; und wer predigt, soll es mit Kraft tun, meint der Apostel. Eine gute Lehrerin kann also stolz sein auf ihren Beruf, sie soll ihre Sache mit Leidenschaft und Liebe tun, und die anderen sollen ihr mit Wertschätzung begegnen. Wer predigt soll sich nicht schwächen lassen von der Gleichgültigkeit oder von der Aggression, die heute dem Glauben entgegenschlägt. Wer gut zuhören kann – soll sich freuen, wie Menschen ihm vertrauen, wie sie sich entfalten, nur weil sie jemand versteht. Welche von all den Begabungen am wichtigsten ist?

Paulus weigert sich strikt, eine Rangordnung aufzustellen. Alle werden gebraucht, vor allem die, von denen es keiner denkt. Wie sollte man denn verzichten können auf Menschen, die gut kochen bei einem Suppenfest? Und ist nicht der, der die Bänke schleppt, genauso wichtig wie die, die vorne steht und alle begrüßt? Müssen in einem Chor nicht verschiedene Stimmen singen, wenn eine Motette daraus werden soll?

Wie in einem Universum ist es, wenn Menschen zusammenleben, zusammen glauben, feiern, singen, Abbruch und Aufbruch erleben. Wie ein Kosmos mit kleinen und großen Himmelskörpern, die umeinander kreisen, feste und gasförmige, solche, die Licht ausstrahlen und solche, die es widerspiegeln. Alle halten sich durch Anziehung und Fliehkraft gegenseitig in der Bahn - und zugleich geben sie sich frei auf ihrem Flug.