Erschöpfungsneid
Ich habe ein neues Wort gelernt. Eine Freundin brachte es ein, als wir abends im Garten saßen. Die Stimmung war entspannt, wir erzählten, was bei uns so los ist – und plötzlich waren wir mitten in einem kleinen Wettkampf: Wer ist gerade am Gestresstesten? Da fiel das Wort: Erschöpfungsneid.
Erschöpfungsneid: Ich schaue neidisch auf das Aufgabenpensum anderer
Erschöpfungsneid meint: Ich schaue neidisch auf das Aufgabenpensum anderer: Wie schaffen die das alles? Und will selbst auch als belastbar gelten. Also zähle ich auf, wie arbeitsintensiv auch mein Leben gerade ist. So entsteht ein ungesunder Vergleich, bei dem sich am Ende niemand gesehen fühlt, sondern, im schlimmsten Fall, sogar als Mensch ungenügend.
Dabei ist es doch eigentlich gut, wenn ich von der eigenen Situation erzählen. Darin steckt die Sehnsucht: Mein Leben soll ernst genommen werden. Die Mühe und das Erschöpft-Sein. Wenn das Leben manchmal schwer zu ertragen ist, dann will man nicht sofort überboten, sondern einfach wahrgenommen werden. Wenn das gelingen soll, gehört dazu: Aushalten, da sein, zuhören.
Häufig kommt es zu einem Überbieten - wer hat mehr zu tun?
Das ist, was Mitgefühl ausmacht, und was so wichtig und wohltuend ist. Und eigentlich leicht zu schenken. Erstmal dem anderen Raum geben, sacken lassen. Und dann erzählen, wie’s mir selbst geht – ganz ohne Wettbewerb, ohne Erschöpfungsneid.
Jesus konnte das. In der Bibel lesen wir von vielen Begegnungen dieser Art. Menschen sprechen ihn an, und sie haben ihn dann ganz für sich. Er hört zu, trägt mit, urteilt nicht, stillt die Sehnsucht nach dem Gesehen-Werden. Niemand muss ihm beweisen, wie viel er oder sie leistet. Er ist einfach da.
Jeder Mensch möchte wahrgenommen werden
An unserem Abend haben wir übrigens den „Erschöpfungschampion“ gekürt; der Preis war hoch: es ging um die letzten Chips. Natürlich selbstironisch. Aber es hat uns nochmal gezeigt, wie wichtig es ist, einander wirklich ernst zu nehmen und zuzuhören.