Der Nächste, bitte!
Rein zeitlich gesehen beginnt ein neuer Tag nach null Uhr. Das ist ziemlich einfach. Komplizierter wird es, wenn man es philosophisch betrachtet oder durch die Brille eines Rabbiners.
Ohne Nächstenliebe ist keine Gottesliebe möglich
Ein solcher jüdischer Religionsgelehrter hat auf die Frage, wann der Tag beginnt, geantwortet: "Der Tag beginnt, wenn du in das Gesicht eines Menschen blickst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns."
Das heißt für mich: Ohne Nächstenliebe ist Gottesliebe nicht möglich, dann bleibt es dunkel wie die Nacht. Auch Jesus fordert im Neuen Testament, den Nächsten zu lieben wie sich selbst (Markus 12, 29-31).
Wer ist mir der Nächste?
Aber wer ist der Nächste? Wer ist der Mensch, in dessen Gesicht ich den Bruder oder die Schwester sehen kann? Puh, was für ein Ansinnen!
Fangen wir mit Freunden an. Da fällt es mir leicht, Verbindendes zu sehen, Gleichklang herzustellen. Ich habe sie mir schließlich ausgesucht. Dann wird es schwer.
Familie hat man sich nicht ausgesucht
Zum Beispiel bei der Familie. Die habe ich mir nicht ausgesucht. Machen wir uns doch nichts vor: Nur, weil es sich um Verwandtschaft handelt, schnellt der Sympathiefaktor nicht automatisch hoch.
Und dann folgen auf der Nächsten-Liste ja auch noch all die anderen: die verschrobene Nachbarin, das verhaltensauffällige Kind der Bekannten, der aalglatte Makler im Elternbeirat.
Sich mit kleinen Schritten seinem Nächsten nähern
In jedem Menschen meine Schwester oder meinen Bruder sehen zu können, ist schon ambitioniert. Mir hilft es, dieses ganz Große in kleinere Einheiten zu verpacken.
Also: Auf das Gute zu schauen, eine positive Eigenschaft zu benennen, sich langsam anzunähern.
Die Nachbarin zum Beispiel mag Blumen, das Kind malt wunderbar und der Immobilienmakler kennt sich gut mit Computern aus. Als ich ihn kürzlich um Rat fragte, gab er mir einen Tipp. Geht doch!
Ich liebe diese Menschen - noch - nicht, aber ich kann sie achten. Und das ist doch schon was wert!