„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.“
Sie fühlt sich an wie ein ziehender Schmerz. Sie ergreift Besitz von mir, raubt mir den Schlaf und lässt mich nicht mehr los: Die Sehnsucht. Wen die Sehnsucht gepackt hat, kennt diesen Zustand. Ein Lexikon spricht von der „Krankheit eines schmerzlichen Verlangens“. Aber ist die Sehnsucht eine Krankheit? Gibt es dagegen eine Therapie? Oder ist sie am Ende etwas, was gut für mich ist?
Ich sehne mich nach einem Menschen. Oder nach einem Ort. Ich sehne einen Zustand herbei. Ich kenne die Sehnsucht nach dem, was vergangen ist. Oder was noch nicht eingetreten ist. Es geht bei der Sehnsucht immer um etwas, was nicht da ist, was ich gerade nicht habe.
Der große Goethe hat gedichtet – und längst ist ein Sprichwort draus geworden: „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!“ Am besten scheint es offensichtlich zu sein, ein Leben ohne Sehnsucht zu führen. Weil „keine irdische Wirklichkeit … meine Sehnsucht letztlich erfüllen“ kann. So zumindest sieht das der Benediktinerpater Anselm Grün.
Aber genau darin liegt wohl das Potential der Sehnsucht: mich nach dem zu sehnen, was nicht ist, lässt mich über eben diese irdische Wirklichkeit hinausdenken, hinausfühlen, hinauswachsen. Das wäre ja nicht schlecht. Denn diese Wirklichkeit, in der ich lebe, ist ja oft genug auch grau und trist und freudlos. Der Blick darüber hinaus kann zu einer richtigen Kraftquelle werden. Der Kirchenvater Augustin hat in der Sehnsucht des Menschen etwas Göttliches gesehen, die Spur Gottes in unserer Seele.
Wer die Sehnsucht (nach was und wem auch immer) kennt, ahnt, dass das, was ist, nicht alles ist. Dass da noch was anderes möglich ist. Das ist es wohl, was bei der Sehnsucht so wehtut: Ich spüre, dass zwischen der Wirklichkeit und dem Möglichen eine Differenz ist. Ein Unterschied, den ich am liebsten überwinden würde, aber nicht überwinden kann. Vielleicht hat Sehnsucht wirklich etwas mit Gott zu tun. Wer Sehnsucht hat, spürt jenseits unserer Welt einen Horizont voller Möglichkeiten.