Beten ohne nachzudenken ist nicht immer schlecht
Ich bin ein Freund kurzer Gebete. Wenige Sätze, vielleicht nur Worte, die ich in mir habe und die ich, wenn nötig, sprechen kann.
Ein alter Mann hat mir ein paar Wochen vor seinem Tod erzählt, welches Gebet in seinem Leben wichtig gewesen ist. Es sind Worte aus einem biblischen Psalm, den er im Konfirmandenunterricht auswendig lernen musste: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ Das sind gerade dreiundzwanzig Worte aus dem 23. Psalm. Mit denen hat er sein Leben gelebt. In finsteren Tälern haben sie ihm Mut und Trost gegeben. Wenn er sich allein und verlassen gefühlt hat, hat er es immer wieder gesagt: du bist bei mir! Er ist sich dessen nicht immer gewiss gewesen, aber er hat es gesagt, er hat es Gott geradezu abgefordert: du bist bei mir!
So gut es ist, dass wir nicht gedankenlos beten, sondern immer wieder dem nachsinnen, was wir sagen und beten – so wichtig ist auch das andere: dass wir Texte haben, in die hinein wir uns mit unserer Not und unserem Leid ohne angestrengtes Nachdenken bergen können. Worte, die uns zur Heimat werden können. Ein Leben lang.
Es gibt Meditationstechniken, die dem Sprechen oder Singen von Wörtern, die man ständig wiederholt, eine besondere Kraft zutrauen. Im Hinduismus, im Buddhismus sind Mantras während der Meditation üblich. Bei den Katholiken gibt es den Rosenkranz, der helfen soll, das Ave Maria und das Vaterunser im beständigen Wechsel zu beten.
Jesus hatte was gegen gedankenloses Beten. Aber gerade das Gebet, das er den Männern und Frauen in seiner Nachfolge zu beten empfohlen hat, das Vaterunser, ist so etwas wie ein urchristliches Mantra geworden. Jenseits der einzelnen Bitten um tägliches Brot, um Vergebung und Erlösung hat das Vaterunser auch den Charakter einer heimatlichen Melodie. Unser aufgeregtes Suchen und Verstehen-Wollen kommt zur Ruhe und wird in diesem väterlichen Vertrauensklang aufgehoben.
Das Vaterunser Jesu. Oder der 23. Psalm, mit dem der alte Mann durch die finsteren Täler seines Lebens gehen konnte. Ich bin ein Freund solcher kurzen Gebete. Denn Beten hilft leben.