Hilfe, der Anstand stirbt aus!
Hilfe, der Anstand stirbt aus! Lehrer sagen mir das in der Schule und ich weiß, was sie meinen: Sie vermissen dieses scheinbar selbstverständliche Set von Regeln, das mal für alle galt und an das man sich gehalten hat, meistens jedenfalls: Nicht mit vollem Mund reden, pünktlich sein und freundlich grüßen. Aber das ist vorbei. Der Anstand von gestern, Anstandsdamen mit gereimten Merkregeln, dieses enge Korsett aus spießigen Benimmregeln ist ausgestorben. Gott sei Dank?
Anstand, das Wort hat seinen Ursprung, wo sich zwei Heere zu Kampf gegenüberstanden und dann – stehenbleiben – statt sich in die Schlacht zu stürzen, sozusagen aus eigener Einsicht zum Stehen kamen, statt sich zu vernichten. Dieser positive Gedanke schimmert noch durch, wenn jemand sagt, dass er aus einer Sache mit Anstand herauskommen möchte, oder dass jemand anständig bezahlt werden soll. Das Wort hat trotzdem einen schlechten Klang. Das hat wohl damit zu tun, dass es immer die anderen waren, die einem Anstand beibringen wollen, die Eltern und die Lehrer zum Beispiel. Die haben bestimmt, was sich gehört und die Kinder mussten das einhalten, zähneknirschend. Je weniger Anstand, desto mehr Freiheit, schien es. So war das früher, die Kinder konnten sich ihre Freiheit nur dadurch erkämpfen, dass sie genau das nicht taten, was ihre Eltern von ihnen verlangt haben.
Das ist vorbei. Heute wünsche ich mir eher, dass manche Eltern ihren Kindern wieder etwas Anstand beibringen würden, dass sie mit ihnen einüben, wo es heute gut ist anzuhalten, stehen zu bleiben, „anständig“ zu sein wie damals das Heer und die Freiheit der anderen zu respektieren.
„Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Mt 7,12), so hat Jesus das gesagt. In der Schule brauchen wir diesen Grundsatz. Und nicht nur dort ist der eine gute Grundlage für Regeln und Grenzen.
Ohne sie müssten wir jedes Mal mühevoll neu entscheiden, was wann zu tun ist. Wer dagegen weiß, welche Regeln in seiner Klasse ausgehandelt und vereinbart worden sind, was also als anständig gilt, der kann sich in diesem Freiraum sicher bewegen.