hr1 ZUSPRUCH
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Rudolff, Claudia

Eine Sendung von

Rundfunkpfarrerin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel

Besinnung

Besinnung

Nein, gestern war kein guter Tag. Als um viertel vor sechs der Wecker ging, habe ich gedacht: Noch fünf Minuten liegenbleiben. Leider wurden es zwanzig. Dann musste alles schnell gehen: Anziehen, Frühstücken, zur Arbeit hetzen. Eigentlich wollte ich beim Frühstück noch einige Dinge mit meinem Mann absprechen. Wir wollten klären, wer heute die Kinder zum Sport fährt, einkaufen geht und Kleinigkeiten ums Haus herum erledigt. Da die Ruhe fehlte, brachte ich alles im Befehlston vor. Das war eher ein Monolog als ein Gespräch. Natürlich kam die Retourkutsche prompt: „Er sei doch nicht einer meiner Angestellten“, konterte mein Mann, „ich sollte mich mal nicht im Ton vergreifen“. Jetzt hing natürlich der Haussegen schief.

Da ich spät dran war, habe noch nicht die kleinste Entschuldigung hervorgebracht, sondern bin einfach ab ins Büro. Da ging es auch nicht besser weiter mit diesem verkorksten Tag: So viel Arbeit. Und die vielen Telefongespräche: „Können die einen denn nicht mal in Ruhe lassen? Muss ich denn alles wissen und entscheiden?“ Meine Laune sank auf den Nullpunkt. Die Sekretärin ging auch in Deckung, als sie meine unfreundliche Mine sah. Als ich gegen Abend heimkam, wollte ich nur noch mein Ruhe, ein Glas Wein trinken und schlafen, schlafen, schlafen.

Dieser unselige Tag musste einfach rum sein. Als ich auf dem Sofa saß und noch in einer Illustrierten blätterte, stieß ich auf ein seltsames Gebet. Ich habe es gleich dreimal gelesen. Von Mal zu Mal dachte ich: „Das ist es: Hätte ich mir heute Morgen Zeit genommen und es vor dem Aufstehen gesprochen, wäre der Tag bestimmt besser geworden.“ Das Gebet geht so: Lieber Gott, bis jetzt geht’s mir gut. Ich habe noch nicht getrascht, die Beherrschung verloren, war noch nicht muffelig, gehässig, egoistisch oder zügellos. Ich habe noch nicht gejammert, geklagt, geflucht oder Schokolade gegessen. Die Kreditkarte habe ich noch nicht belastet. Aber in einer Minute werde ich aus dem Bett klettern; und dann brauche ich wirklich deine Hilfe.