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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer im Ruhestand, Biebertal

Aufräumen und bewahren

Aufräumen und bewahren

Schon beim letzten Umzug habe ich sie verzweifelt und erfolglos gesucht: Die alten Fotos aus Kindertagen und aus der Schulzeit. Und die Briefe, die ich damals geschrieben habe: An Freundinnen oder Freunde oder von der Klassenfahrt an meine Eltern. Da gab es doch immer so einen großen Umschlag, schon reichlich abgegriffen und schwer zu verschließen. Wann habe ich den zum letzten Mal in der Hand gehabt? Und wo? Die Sache ist rätselhaft. Er bleibt verschwunden. Habe ich ihn selbst bei einer dieser gründlichen Aufräum-Aktionen entsorgt? Ist er mitsamt seinem Inhalt ein Opfer dieser Sturm- und Drang-Jahre geworden, in denen keine Zeit blieb für Erinnerung? Wo es darum ging, voranzukommen. Für sich selbst und die eigene Familie einen gesicherten und komfortablen Platz im Leben zu finden. Der Blick zurück galt in dieser Zeit als eher kitschig und nostalgisch.

Die alten Bilder bleiben verschollen. Andere unwichtige Dinge finde ich dagegen sofort. Sie haben alle Umzüge unbeschadet überstanden: Bücher aus den 70er Jahren. Paberback. Habe ich damals nicht gelesen. Aber sie zogen mit, weil sie ja irgendwann interessant sein könnten. Protokolle von Sitzungen. Kochrezepte aus Illustrierten, Zeitschriften. Alles das ist jetzt bei der letzten Aufräumaktionen in die blaue Papiertonne gewandert. Auf Sachen, die ich 35 Jahre nicht gebraucht habe, werde ich auch in Zukunft verzichten können.

Wie sich doch der Blick verändert, wenn es darum geht, was wichtig ist und was unwichtig. Wenn es darum geht, was ich auf Dauer brauche und was nur unnützer Ballast ist.

Lange Zeit habe ich auf Informationen gesetzt. Nahrung für das Hirn. Hilfen, die eigene Kompetenz, das eigene Wissen, die eigene Urteilskraft zu steigern.

Und jetzt, wo ich merke, dass meine Unterlagen alt sind und überholt und der Vorrat an Wissen in der Welt unübersehbar groß, komme ich wieder zurück auf das, was seinen Wert nicht verliert: Auf Erinnerungen an Menschen und Begegnungen. Ich erinnere mich vage an ein Gesicht und würde es gerne noch einmal sehen, wenn auch nur auf einem Foto. Ich denke an flüchtige Begegnungen. Und kann die Bruchstücke meiner Erinnerung nicht mehr vollständig zusammen setzen. Trotzdem gehen sie mit: Menschen. Gesichter. Worte. Umarmungen. Auch wenn meine Bilder verschwunden sind; die Erinnerung, wenn auch bruchstückhaft, sie bleibt. Ich hoffe, dass noch nicht einmal die Grenze des Todes sie mir nehmen wird.