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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer im Ruhestand, Biebertal

Sie ist 82 und will nicht alt werden

Sie ist 82 und will nicht alt werden

„Nein“, sagt die alte Dame, als sie die Einladung zum Seniorenkaffee in der Hand hält. „Nein, da kriegt mich niemand hin, da sind ja nur alte Leute.“ Dabei ist sie selbst 82. Und ein anderes Mal, wenn sie nachts schlecht geschlafen hat oder die Füße nicht so wollen wie sie, stöhnt sie: „Ich weiß nicht, ob ich mal alt werden will.“ Nein, sie ist nicht verwirrt. Auch nicht zeitweise neben der Spur. Sie ist sich sicher: Alt werden, das ist etwas, das sie noch vor sich hat.

Ich denke, sie ist keine Ausnahme, wenn es darum geht, ein realistisches Verhältnis zum eigenen Alter zu bekommen. Ich habe selbst meine Probleme damit. Ich kann mich noch gut erinnern: Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, hat meine Mutter gesagt: „Geh’ doch mal rüber zu dem Onkel Helmut, der wird heute fünfzig. Gib ihm die Hand und sag: Herzlichen Glückwunsch.“ Das habe ich gemacht und ihn mir dabei genau angesehen, und habe gedacht: Dass ein Mensch so alt werden kann! Heute bin ich über sechzig und fühle mich nicht gerade alt. So ändert sich die Perspektive.

Das mag damit zu tun haben, dass die Menschen heute anders alt werden, als noch vor ein oder zwei Generationen. Die alte Dame mit 82 zieht sich nach wie vor schick an und geht alle zwei Wochen zum Friseur. Mein Nachbar hat sich mit 70 sein erstes Motorrad gekauft und Onkel Wilhelm hilft seinem Enkelkind, wenn es darum geht, eine Störung der Internet-Verbindung zu beheben.

Und nicht zuletzt: Wenn die alte Dame mit 82 einen der fünf Witze aus ihrem Repertoire erzählt und selber dabei Tränen lacht, als hätte sie ihn zum ersten Mal gehört, dann habe ich das sichere Gefühl: In uns ist etwas, das immer jung bleibt und gar nicht alt werden kann. Ich würde das unsere Seele nennen. In der Seele gibt es keine Kalkablagerungen und keine Abnutzungserscheinung. Sie bleibt jung und unverbraucht, wenn der Mensch, in dem sie wohnt, sie nicht zumüllt mit all dem, was ihn belastet, was er nicht mehr kann, was ihm weh tut, vor was er Angst hat. Sicher, das alles bringt das Leben auch mit sich. Aber hinter dem allem gibt es unsere Seele, die jung bleibt und uns etwas Jugendliches erhält. Ich glaube, dass noch nicht einmal der Tod sie alt aussehen lässt.