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Kristen, Dr. Peter

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Studienleiter, Religionspädagogisches Institut Darmstadt

Seetage sind Sehtage

Seetage sind Sehtage

Zum ersten Mal habe ich eine längere Schiffsreise gemacht. Von Hafen zu Hafen, mit vielen neuen Eindrücken bei den Ausflügen an Land.

Aber da gibt es auch die Seetage. Nichts als Wasser am Horizont von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, in alle Richtungen nur Meer, soweit das Auge reicht. Was macht man da den ganzen Tag?

Ich hatte natürlich etwas zum Lesen dabei und war auch nicht alleine unterwegs. Ich hatte meine Musik und hätte einfach mal ausschlafen können oder Postkarten schreiben.

All das hab ich kaum gemacht, weil ich entdeckt habe, dass Seetage auch Sehtage sind, Tage, an denen man etwas sehen kann, was man normalerweise nicht bemerkt.

Was man an so einem Sehtag entdeckt, das ist natürlich sonst auch immer da, es bleibt aber oft in der Fülle der Alltagseindrücke verborgen, weil es zu klein ist, zu unscheinbar, irgendwie nicht so wichtig, scheinbar nicht wert, beachtet zu werden.

Ich hab an den Seetagen vom Schiff aus den Seeschwalben zugesehen wie sie mühelos, fast ohne jeden Flügelschlag in die Wellentäler gleiten, weit draußen auf dem Meer. Ich hab den Regenbogen entdeckt auf dem Kamm der Wellen, die der Wind zerzaust.

Seetage schärfen alle Sinne und so hab ich auch gehört, wie laut die Eisscholle knackt, die am Schiff vorbei treibt. Ich hab den stolzen Vater bemerkt, der an der Reling steht und seine Kinder im Arm hält, auf jeder Seite eins.

Seetage sind Sehtage. An ihnen kann man im normalen Besonderes entdecken.

Das ist so, als hielte da jemand für einen Augenblick eine Lupe auf etwas ganz Normales. Man nimmt sich einen Augenblick länger Zeit, es zu erfassen. So schaut man die Welt mit einem liebevollen Blick an, der frech auch das Kleine achtet.

Ich glaube, viele Menschen, die sich Gottes gewiss geworden sind, haben ihre Gewissheit auch an Tagen gefunden, an denen sie die Welt so angesehen haben.

Etwas Unscheinbares oder Alltägliches hat sie auf die Spur gebracht zu Gott, der natürlich auch schon immer da war.

Solche Sehtage gibt es auch an Land.