Hinterm Schatten scheint die Sonne
Noch ist es ja dunkel draußen. In Hessen geht die Sonne erst nachher auf, kurz vor halb neun. Aber Achtung: heute wird sie ihre Mühe haben. Eine partielle Sonnenfinsternis wird erwartet. Das heißt: Ein ganz ordentlicher Teil der Sonne wird dunkel bleiben. So gegen viertel nach neun dürfte es am besten zu erkennen sein – wenn uns die Wolken nicht die Sicht versperren: über 70 Prozent der Sonne sind vom Schatten des Mondes verdeckt. Aber auch bei bedecktem Himmel können wir staunen: Die Farben in der Natur werden eine Weile anders aussehen, seltsam, fahl, bleiern.
Wenn die Sonne sich verfinstert, dann ist das, so glaubte man früher, das Anzeichen kosmischer Katastrophen. Auch in der Bibel werden Sonnen- und Mondfinsternisse als Zeichen des bevorstehenden Weltendes genannt. In früheren Jahrhunderten haben solche Ereignisse die Menschen zutiefst beunruhigt. Erst allmählich kam man dahinter, warum und wann es zur Verdunklung der Sonne kam. Die erste Sonnenfinsternis, die vorher richtig berechnet worden war, war im Jahr 1715. Aber auch danach blieb dieses Naturereignis faszinierend.
Auch ich finde eine Sonnenfinsternis spannend. Nicht zuletzt deswegen, weil uns erst die verdunkelte Sonne daran erinnert, wie wichtig uns dieser heiße Stern in der Mitte unseres Planetensystems ist. Erst, wenn ich etwas einmal nicht wie gewohnt vor Augen habe, merke ich, wie sehr ich mich, ohne nachzudenken, darauf verlasse.
Mit dem Licht der Sonne ist es so wie mit der Liebe. Wenn ich mit den Menschen meiner Umgebung in Zuneigung und Harmonie zusammen lebe, wenn ich liebe und geliebt werde, dann nehme ich das gerne an, denke aber selten darüber nach, wie großartig das eigentlich ist. Ich denke nicht darüber nach, wie mich Menschen tragen und wärmen und mich mit ihrer Liebe berühren. Erst wenn was passiert, wenn wir uns übereinander ärgern, wenn ich jemanden verliere oder mich jemand verlässt, wenn also die Liebe an ihre Grenze kommt, wird mir bewusst, wie reich ich vorher beschenkt worden bin. Wenn etwas abwesend ist, wird die Sehnsucht groß, dass es wieder kommt.
Wenn es nachher wegen der partiellen Sonnenfinsternis nur mühsam hell wird, dann warten wir auf die Sonne in ihrer ganzen runden Fülle. Ich bin ziemlich sicher, dass diese Sehnsucht erfüllt wird: hinter dem Mondschatten ist ja immer noch die helle Sonne vorhanden. Vielleicht ist das ja auch bei der Liebe so: nicht jeder Schatten bedeutet gleich das Ende. Manchmal ist es bloß eine – partielle Liebesfinsternis...