Ein "Messi" der Eindrücke und Bilder
Einer meiner Mitreisenden ging mir jeden Tag mehr auf die Nerven. Zwischen ihm und der Welt, zwischen ihm und mir und uns allen war immer ... seine Videokamera.
Schon dem Frühstückstisch näherte er sich mit diesem Gerät vor dem Kopf. Das Auge, das er für menschliche Direktkontakte noch frei hatte, kniff er zu, um alle Konzentration auf seine gerade laufende Videoproduktion zu richten. Bei Ausflügen stieg er immer zuerst aus dem Bus und als letzter wieder hinein, um ja keinen von uns zu verpassen. Witze erzählten nur die anderen. Er musste sie ja dokumentieren. Richtig glücklich war er über die kleinen alltäglichen Missgeschicke: Da tropfte jemandem das Eis auf das Hemd oder eine Windböe nahm den Hut mit. Er schnalzte mit der Zunge, hielt die Kamera drauf und drehte den Zoom auf ganz nah.
Als Person war er eigentlich nicht anwesend. Wir fragten uns, ob er sich überhaupt richtig im Urlaub befand, wo er doch so gut wie nichts mit den eigenen Augen sah. Und sich weder an der schönen Aussicht freute noch am reich gedeckten Tisch. Manchmal kam er gar nicht dazu, etwas zu essen, weil er immer herum sprang. Er freute sich nicht an dem, was er vor Augen haben konnte, sondern an den filmischen Highlights, die er aus Landschaft und Mahlzeit zu machen gedachte. Denn das entscheidende der Reise findet für ihn vor der Leinwand in seinem Wohnzimmer statt Ich warte täglich auf die Einladung zur Erstaufführung seines umfangreichen Videokunstwerks, mit Sound und Überblendungen und geistreichem Text versehen.. Ich weiß noch nicht, ob ich hingehe.
Wenn er auf Reisen ist, gibt es "heute" für ihn eigentlich nicht. Was er heute sehen könnte, das muss er dringend für morgen bewahren. Und morgen freut er sich an dem, was er gestern hätte sehen können. Ein Sammler ist er. Einer, der nichts verlieren will. Ein "Messi" der Eindrücke und Bilder. Aber wahrscheinlich verpasst er dabei das wichtigste: Das Leben live! Das, was unwiederbringlich ist und was in keine Kamera und auf keine DVD passt. Der Blick in die Tiefe des Himmels. Oder in die Augen eines Menschen. Hände, die sich berühren. Ein persönliches Wort, ganz ohne Zeugen. Wer sich das entgehen lässt, ist zu bedauern.