Die Seele braucht Aufmerksamkeit
In den ersten Stunden des Tages muss ich manchmal noch gähnen. Das Gähnen ist nicht immer ein Zeichen dafür, dass wir müde sind. Eigentlich gähnen wir, um unser Gehirn mit mehr Sauerstoff zu versorgen. Wer gähnt, nimmt die Hand vor den Mund. Denn es könnte ja sein, dass uns beim Gähnen aus dem weitaufgerissenen Mund unsere Seele verlässt!
Das zumindest ist die Furcht unserer frühen Vorfahren gewesen. Wenn sie gähnen mussten, dann hieß es: schnell die Hand vor den Mund, damit die Seele nicht zu einem Ausflug aufbricht, von dem sie am Ende nicht wiederkehren würde. Oder genauso bedrohlich: dass etwas Fremdes in den Mund hinein fährt, ein fremder Geist, eine böse Kraft, die nun Besitz von einem ergreift.
Wie beim Gähnen, so stellte man sich das auch beim Niesen vor. Daran erinnert uns heute nicht nur die Hand vor dem Mund, sondern auch die guten Wünsche, die gleich aufs Niesen folgen. „Gesundheit!“ sagen wir dann. Im Mittelalter hat man sich zugerufen: „Gott helfe dir“. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, dass der Niesende beim Niesen seine Seele ausstößt. Und das sollte Gott doch, bitteschön, verhindern.
So wie die Seele einen Menschen verlassen konnte, so konnte sie aber auch – dachte man – wieder zu ihm zurückkehren. Eine solche merkwürdige Rückkehr der Seele wird sogar in der Bibel, im Alten Testament5, beschrieben. Der Profet Elischa wird zu einem Jungen geholt, der gestorben war. Elischa betet und wärmt den bereits kalten Körper auf. Der Junge niest nun gleich sieben Mal und ist wieder lebendig – die Seele ist in den Körper zurückgekehrt.
Die Furcht, die Seele könnte sich einfach auf und davon machen, kennen wir heute nicht mehr – wir gähnen herzhaft und niesen lauthals. Das ist ja auch ganz gut so. Obwohl – vielleicht sollten wir uns ab und zu doch ein wenig mehr Zeit nehmen für den „inneren Menschen“, wie das die Bibel nennt. Denn unser Wohlbefinden ist nicht allein Sache eines gesunden Körpers. Die Seele ist mindestens ebenso wichtig. Sie kann Hunger haben und Durst – dann braucht sie Nahrung. Sie kann sich nach Ruhe sehnen oder singen wollen, dann muss ich ihr dazu Gelegenheit geben.
Vielleicht können wir da ja an die Vorstellungswelt unserer Vorfahren anknüpfen: Wenn wir jedes Mal beim Niesen oder Gähnen nur einen kurzen Gedanken auf das Wohlergehen unserer Seele verschwenden würden – ich glaube ganz sicher, es täte uns gut.