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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

Das Heilige liegt im Auge des Betrachters

Das Heilige liegt im Auge des Betrachters

Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Sagt man. Das soll heißen, dass in den Augen des Einen etwas schön erscheint, was dem anderen nicht mal einen Blick wert ist.

Ich glaube, dass auch das Heilige im Auge des Betrachters liegt. Was mir heilig ist, kann auch anderen heilig sein. Kann, muss aber eben nicht. Heilige Worte, heilige Wege, heilige Orte – das Heilige liegt (wie das Schöne) im Auge des Betrachters.

Dreihundert Millionen Menschen machen jedes Jahr eine religiöse Pilgerreise. Machen sich auf den Weg zu einem heiligen Ort, zu einem Platz mit besonderer Aura. Ihr Antrieb ist die Sehnsucht danach, mit dem Heiligen in Berührung zu kommen, etwas näher zu Gott zu kommen, etwas vom himmlischen Frieden zu spüren. Aber warum manche der Pilger eine Felsengrotte in dem kleinen Ort Lourdes in Südfrankreich aufsuchen, andere dagegen wenigstens einmal in ihrem Leben in die saudi-arabische Millionenstadt Mekka pilgern – das liegt an so etwas wie den überlieferten Gefühlen einer Religion.

Solche Gefühle kann man teilen. Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern verstehen sich ohne alle Worte, wenn sie sich in Lourdes begegnen. Sie wissen voneinander: wir alle sind auf dem Weg zu diesem heiligen Platz. Eigentlich sollten die, die eine Wallfahrt nach Lourdes machen, auch die Mekkapilger gut verstehen und in deren Sehnsucht nach dem Heiligen ihre eigene Sehnsucht wiedererkennen – auch wenn die konkreten Orte des Heiligen sehr weit auseinander liegen.

Um das Heilige zu finden, muss man aber nicht weit pilgern. Und auch das eigenartige Gefühl, das einen erfasst, wenn man mit tausenden anderen zusammen eine berühmte Kultstätte aufsucht, muss nicht sein.

Das Heilige kann klein und leicht sein. Zum Beispiel ein Satz aus der Bibel oder eine Zeile eines Liedes: das bleibt mir im Sinn, über Jahre, und tröstet mich. Oder eine kurze Zeit am Morgen zwischen Aufstehen und Losgehen – eine heilige Zeit zum Atemholen und um Kraft zu empfangen. Wem es gelingt, dem Heiligen einen Ort, einen Platz im eigenen Alltag und im eigenen Herzen zu geben, der hat so etwas wie einen festen Anker gefunden, in unheiligem Wetter einen heiligen Halt.