hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Ahlbrecht, Jörg

Eine Sendung von

Evangelischer Pastor, Marburg

In der Stille liegt die Kraft

In der Stille liegt die Kraft

Was ist damals bei der Kreuzigung Jesu geschehen und was bedeutet das heute? Noch vor den Osterferien geht es im Religionsunterricht der vierten Klasse um diese Fragen. Klar, dass es darauf keine kurzen Antworten gibt. Es braucht dazu einiges: Die Erzählungen von der Kreuzigung. Die Geschichten über das Leben von Jesus. Und das Osterfest; denn Karfreitag sehen wir von Ostern, von der Auferstehung Jesu her.

Die Religionslehrerin Marianne sucht mit ihren Schulklassen Antworten nicht nur bei Informationen, sondern sie führt die Kinder auch dazu, selbst zu empfinden, worum es geht. Dazu hat sie die „Zeit der Stille“ am Beginn jeder Religionsstunde eingeführt. Normalerweise geschieht das so: Die Jungen und Mädchen sitzen im Kreis. In der Mitte ein Tuch, darauf Kerzen, eine Feder, ein Stein, Papierblumen. Kleine Gegenstände, die irgendwer irgendwo gesammelt und mitgebracht hat. Die liegen in der Mitte. Alle blicken dorthin. Kommen zur Ruhe. Dann beginnt eine Gedankenreise. Mit geschlossenen Augen gelingt es am besten. Die Schülerinnen und Schüler hören nur die Stimme ihrer Lehrerin. Marianne setzt sie mit ihren Worten in Bewegung. Es geht zunächst noch über vertraute Wege, und dann immer weiter weg. In Gedanken bis ans Meer. Dort bleiben sie. Und schweigen. Eine Minute. Noch eine. Schweigen. Manchmal sind es mehrere Minuten. Und irgendwann geht es wieder zurück. Weg vom Meer, über die Wege, die sie gekommen sind, zurück bis ins Klassenzimmer. Anschließend wird gesungen. Und dann geht es mit einem Thema weiter.

Als es nun vor den Osterferien um die Frage „Warum musste Jesus sterben?“ ging, bekommt die Gedankenreise noch ein besonderes Element. Sie nehmen den Stein aus ihrer Mitte mit. Auf diesen Stein haben sie aufgeladen, was den Jungen und Mädchen Angst macht. Sie tragen ihn in Gedanken bis zum Meer. Dort werfen sie ihn schließlich ins Wasser und kehren um. Ohne diese Last sind sie zurückgekommen. Erleichtert im wahrsten Sinn des Wortes. Leichter geworden, weil der schwere Stein nicht mehr belastet. Sie sprechen darüber, wie es ist, keine Angst mehr zu haben. Sie spüren, dass sich so befreit leben lässt. Und sie wissen: Diese Reise heute, dieses eine Mal verhindert nicht, dass ich auch zukünftig Angst habe. Aber wenn ich mich das nächste Mal vor etwas fürchte, habe ich eine Möglichkeit erlebt, es loszuwerden. Ich kann still werden und in Gedanken meine Ängste in das tiefe Meer versenken.

Musik

Mit dem Nachdenken heute am Karfreitag unternehmen auch wir, liebe Hörerinnen und Hörer, eine kleine Gedankenreise. Denn es gilt, an die Ereignisse rund um die Kreuzigung Jesu zu erinnern. 2000 Jahre zurück. Zurück zu den Ereignissen in Jerusalem, zu den letzten Stunden des Jesus aus Nazareth. Jesus ist gekreuzigt. Die letzten Stunden erlebt er Not und Qualen, hat Angst. Er sucht nach Gott in seiner Todesstunde und findet ihn nicht. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, hat der Evangelist Matthäus als seine letzten Worte überliefert (Matthäusevangelium Kapitel 27 Vers 46). Dann stirbt Jesus. In diesem Augenblick, so berichten die Evangelisten, erbebt die Erde. Die Felsen zerspringen. Gräber tun sich auf. Die ganze Welt wird von diesem Tod erschüttert. Für die Frauen und Männer, die mit Jesus unterwegs waren, ist dieses Sterben eine Katastrophe. Alle Hoffnungen sind zerstört. Sie sind wie gelähmt. Starr vor Schmerz und Trauer. Es hätte doch immer so weitergehen können. Das gemeinsame Leben, die Wohltaten an kranken Menschen, die Ermutigung für die Ausgestoßenen und die Predigten über das Reich Gottes.

In die Gedanken dieser Trauernden können sich viele von Ihnen hineinversetzen. Besonders, wenn Sie erst kürzlich erleben mussten, wie ein lieber Mensch aus Ihrer Familie oder aus Ihrem Freundeskreis gestorben ist. Vielleicht hatten Sie noch so viel vor. Sie werden kennen, wie es ist, sich dadurch wie gelähmt zu fühlen und keinen Trost zu finden. Dann ist es nicht nur eine Vorstellung in Gedanken, sondern Wirklichkeit. Wie die Jüngerinnen und Jünger damals werden Sie sich fragen: Wie kann sich die Trauer über den Tod in Zuversicht wandeln, so dass ich neuen Lebensmut bekomme?

In der Religionsstunde führen die Stille und das Schweigen zu einer tiefen Wahrnehmung. Dass gar nichts gesprochen wird, genießen die Schülerinnen und Schüler in der „Zeit der Stille“ sehr. Stille kann gut tun. Schweigen kann heilsam sein. Gerade in schwierigen Zeiten.

Musik

Der Karfreitag ist ein stiller Tag, ein Tag für besondere Wahrnehmung. Die Vorsilbe ‚Kar‘ deutet schon auf die Besonderheit an diesem Tag hin. Es ist eine kurze Form von dem althochdeutschen Wort „kara“, was so viel wie Klage, Kummer oder Trauer bedeutet. Der Tag der Klage, ein Freitag der Trauer. Nach dem Feiertagsgesetz in Hessen dürfen heute keine Tanzveranstaltungen stattfinden, keine Unterhaltungsoder Sportveranstaltungen oder anderes, was dem Charakter dieses Tages entgegensteht. Denn der Karfreitag gilt dem Gedenken an das Sterben Jesu am Kreuz. Dieser Gedenktag verbindet sich mit den Menschen, die Angst vor dem Sterben haben, Angst vor dem Tod. Oder die nicht wissen, wie es nach dem Verlust eines geliebten Menschen weitergehen soll.

Stille und Schweigen können eine Menge ausdrücken. Mehr als Worte. Es gibt Situationen, in denen jedes Wort falsch zu sein scheint. Gemeinsames Schweigen kann ausdrucksvoll sein gei der Begleitung von sterbenden Menschen oder von Menschen, die trauern. Mal ist es schwer auszuhalten. Mal ist es eine gute Erfahrung, die tröstet und stärkt. In der Hospizarbeit ist dies ein wichtiger Aspekt der Ausbildung: Nahe sein nicht durch Worte, sondern durch Dasein und Schweigen. Es hilft, wenn wir Formen bewahren, in denen Stille und Schweigen gepflegt und geübt werden. So wie heute in vielen Gottesdiensten oder Andachten zur Todesstunde Jesu. In dieser stillen Betrachtung, im Schweigen, können sich neue Wege auftun. Können wir Formen finden, die uns mit Schweren leben lassen.

Die Lehrerin Marianne hofft, dass für die Kinder dieses Bild eine Hilfe ist: Was schwer ist, trage ich weit fort und werfe es ins Meer. Ganz ähnlich kann ich das Sterben Jesu betrachten: Mit diesem Tod kann weggehen, wovor ich mich fürchte. Die Todesangst, die Jesus gefühlt hat, ist auch ein Teil meiner Angst. Er hat sie überwunden. Das kann mir Kraft geben für alles, worum mir angst und bange ist.

Die Bedeutung des Sterbens Jesu wurde erst im Nachhinein richtig klar. Erst als drei Tage später die Jüngerinnen und Jünger begriffen: Jesus ist auferstanden. Er lebt. Mit diesem Tod ist nicht alles aus. Sie konnten ihre Ängste mit ins Grab Jesu werfen. Der Grundstein dazu war gelegt: Es kann weitergehen. So wie er gelebt hat, was er von Gott erzählt hat, das bleibt bestehen. Es begründet eine neue Gemeinschaft, in der Sterbende gehalten sind und Trauernde getröstet werden.