Der reiche Mann und der arme Lazarus (Lukas 16, 19-31)
Die Bibel spricht zu uns in Bildern. Die Geschichten, die diese Bilder erzählen, mögen uns manchmal auf den ersten Blick fremd erscheinen, aber die meisten von ihnen sind zeitlos, denn es geht um Fragen, die das menschliche Leben seit jeher begleiten: um Liebe und Hass, um Schuld und Vergebung, um Wahrheit und Lüge, um Willkür und Gerechtigkeit, um Reichtum und Armut, um Leben und Tod. In eine solch alte Geschichte mit vielen Bildern möchte ich Sie heute mitnehmen. Jesus hat sie erzählt, um den Menschen einen Spiegel vorzuhalten. Manche Einzelheiten der Bilder mögen heute anders aussehen. Aber in dem Spiegel ist noch viel zu erkennen. Ich lade Sie ein, in den kommenden Minuten mit mir in diesen Spiegel hinein zu schauen.
MUSIK
Kommen Sie mit mir in eine antike Stadt zur Zeit Jesu, irgendwo im Vielvölkergemisch des römischen Reiches, am Ufer des Mittelmeers. Mit der vornehmen Zurückhaltung einer Weltmacht nannten es die Römer „Mare nostrum“ – „unser Meer“. Folgen Sie mir vom Gewimmel und Geschrei des Hafens mit seinem durchdringenden Geruch nach fauligem Fisch und Kloake. Wir steigen durch holprige Gässchen bergan, bis der Lärm des Pöbels hinter uns bleibt und die besseren Viertel beginnen.
Hier oben wird es ruhiger. Die Luft ist kühler und klarer als unten in der Hafenniederung. Palmen und üppige Oleander schauen über weiße Mauern, hinter denen sich prächtige Stadthäuser erstrecken, im klassischen Geviert mit dem Atrium in der Mitte. Ab und zu huscht ein Trupp Sklaven vorbei, auf dem Weg zum Markt oder sonstwie in Geschäften ihrer Herrschaft. Türhüter blinzeln in die Sonne. Aus manchen Gärten klingt leises Lachen. Sonst herrscht vornehme Stille. Wer hier residiert, der hat es geschafft. Und hier, irgendwo in der Oberstadt, beginnt eine Geschichte, die Jesus erzählt, und die der Evangelist Lukas überliefert hat.
Zitator:
Es war … ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden.
Ein reicher Mann. Seit Menschengedenken teilt sich die Welt in Oben und Unten, in Mächtige und Ohnmächtige, in Reiche und Arme. Manchmal sind die Grenzen fließend, aber klar ist immer: Nur wenige haben das Glück, zu den Reichen zu gehören, und es sind viele, die ganz unten ihr Dasein fristen müssen.
Der reiche Mann aus unserer Geschichte kleidet sich seinem Stand entsprechend. Sein Obergewand ist pupurfarben in strahlendem Rot, gefärbt mit einem Sud aus den Eingeweiden der Purpurschnecke, dem kostbarsten Farbstoff aller Zeiten. Zehntausend Schnecken brauchte man für ein Gramm reinen Purpurs. Die Farbe war wertvoller als Gold. Die Senatoren in Rom durften einen purpurnen Streifen an ihren Gewändern tragen, der Kaiser hatte gleich eine ganze lange Toga in dieser Farbe. Aber auch wohlhabende Geschäftsleute stellten so gerne ihren Reichtum zur Schau. Den Purpurgewändern entsprechen heute vielleicht die Maseratis, die Privatjets und die Luxusjachten an den exklusiven Stränden der Schönen und der Reichen.
Der reiche Mann aus unserer Geschichte lässt es beim Purpur nicht bewenden. Sein Untergewand besteht nicht etwa aus Wolle wie bei einfachen Leuten, sondern aus kostbarem Leinen, fest und glänzend, mühsam und aufwendig herzustellen und teuer. Luxus pur für alle Tage. Wie Prada und Gucci, Vuitton und Rolex, goldene Golfschläger und Zehnkaräter. Aber zurück zu unserer Geschichte, in die Oberstadt am Mittelmeer, irgendwo, irgendwann zur Zeit Jesu:
Zitator:
Es war … ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden.
Geld macht nicht glücklich, sagt der Volksmund. Das war wohl immer eine Beschwichtigung. Zumindest lebt es sich angenehm, ohne Sorge um das tägliche Brot. Die Welt der bunten Boulevard-Blätter, die jede Woche in hoher Millionenauflage unser Land überschwemmen und begeistert gekauft werden, kündet davon auf jeder Seite. Und nicht hinter jeder strahlenden Hochglanz-Story lauert das verborgene Grauen. Die Welt ist getrennt in wenige, die sorglos im Überfluss leben und viele, die zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel haben. Es gibt diese Trennung im Weltmaßstab zwischen der Oberschicht der reichen Industrieländer und den unzähligen Hungernden in Afrika, Asien und Südamerika, und es gibt sie auch in unserem reichen Land, wo die Schere zwischen sagenhaftem Reichtum und Hartz IV für viele Jahr für Jahr weiter auseinander geht.
MUSIK
Zitator:
Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor der Tür des Reichen voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre.
Seit jeher stehen ungezählte Menschen vor den Türen des Reichtums. Einer von ihnen bekommt in der Geschichte, die Jesus einst erzählte, einen Namen: Lazarus. Das ist die lateinische Form des alten hebräischen Namens Elieser und bedeutet eigentlich: Gott hilft. Aber hilft er denn? Ist es nicht eine letztlich verzweifelte Hoffnung, die immer und immer wieder von der brutalen Wirklichkeit eingeholt wird? Lazarus hört und sieht nichts von einem unmittelbar rettenden Eingreifen Gottes, der sein Schicksal wendet. So wenig wie die Flüchtlinge aus Somalia im Lager Dadaab oder die Überschwemmungsopfer in den Flussdeltas von Bangla Desh oder die Müllkinder auf den endlosen Müllbergen von Sao Paulo. Lazarus in unserer alten Geschichte ist am Ende. Er will nicht mehr als vom Abfall vom Tisch des Reichen leben. Aber nicht einmal das wird ihm gewährt. Lazarus liegt vor der Tür, und ob sein Bitten erhört wird, bleibt ungewiss. Aber Hunde umlagern ihn und lecken seine Wunden.
Die Hunde. In der Antike waren sie keine geschätzten Haustiere wie heutzutage. Sie standen auf einer Stufe mit den Wölfen. Überall machten Rudel von herrenlosen Kötern die Straßen unsicher. Man hielt sie sich am besten mit Knüppeln und Steinwürfen vom Leib. Aber sie umlagerten die Häuser, denn es war in jener Zeit üblich, Speisereste auf den Boden zu werfen. Die wurden dann hinaus gefegt und von den Hunden gierig verschlungen. Aus Ausgrabungen wissen wir heute, dass mancher Reiche in jener Zeit seine Fußbodenmosaike geradezu mit Abbildungen üppiger Essensreste ausstaffieren ließ, um seinen Reichtum noch mehr heraus zu streichen. Dass Lazarus vor der Tür lag, machte ihn den Hunden gleich – auf der untersten Stufe des Lebens.
MUSIK
An den Mauern, die den Reichtum umgeben, schied sich schon immer die Welt zwischen reich und arm. Heute sind es nur noch selten richtige Mauern, und doch bleiben den Armen viele Türen fest verschlossen. Man muss kein Sozialromantiker sein, um zu sehen, dass dazu in unserem Land Niedriglöhne und fehlende Bildungschancen beitragen, nach außen Handelsschranken und Einreisebestimmungen, mit denen die reichen Länder sich vor den Armen dieser Welt zu schützen suchen.
Zitator:
Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.
Es kommt, wie es kommen muss. Lazarus stirbt. An Entkräftung, an Hunger, an seinen Krankheiten, an der Hartherzigkeit seiner Umgebung? Von einem Begräbnis ist keine Rede; er wird wohl verscharrt. Die Bibel verliert kein Wort darüber. Etwas anderes ist wichtig: Engel tragen den Ärmsten der Armen in Abrahams Schoß. Das alte Bild bezeichnet nach dem jüdischen Glauben jenen Ort, an dem fromme und rechtschaffene Juden bei Gott in Ewigkeit geborgen sein werden wie ein Kind im Schoß seiner Mutter. Und dann geschieht etwas Merkwürdiges. Auch der Reiche stirbt, erhält ein vermutlich prunkvolles Begräbnis in allen Ehren.
Zitator:
Als der Reiche nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und der Reiche rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen.
Wie selbstverständlich kommt der Reiche nicht in Abrahams Schoß, sondern an einen Ort, den Martin Luther einst mit „Hölle“ übersetzt hat. Im griechischen Text des Neuen Testaments steht hier nur das Wort Hades, mit dem die Griechen ganz allgemein das Reich der Toten bezeichneten. Zu allen Zeiten haben Menschen versucht, in ihrer Phantasie einen Blick hinter die Grenze des Todes zu werfen. Auch zur Zeit Jesu gab es dazu viele unterschiedliche Vorstellungen. Die Griechen stellten sich den Hades als ein kaltes Reich vor, in dem die Verstorbenen ohne Bewusstsein dahindämmern. Im Judentum dachte man an tiefe Hohlräume, wo die Ungerechten in Dunkelheit und die Gerechten im Licht sein würden. Auch von Qualen in Hitze und Flammen war die Rede, und von einem kühlen Bach, der die Zone der Gerechten umströmen sollte.
Bis in unsere Tage sind diese Bilder von der Volksfrömmigkeit immer weiter ausgeschmückt worden: mit großen Kesseln und siedendem Öl für die ewige Qual der Übeltäter, Legionen kleiner Teufelchen, die das Feuer schüren, und mit einem Oberteufel als Aufseher. Aber so viele Bilder es auch sein mögen, sie alle entspringen menschlicher Phantasie und Vorstellungskraft, angetrieben von der uralten Sehnsucht, sich über den Tod hinaus irgendetwas vorstellen zu können. Es sind Bilder, mehr nicht. Wir können sie getrost beiseite legen. Denn sie verdecken eher den Blick auf eine viel wichtigere Frage, die dahinter steht:
Zitator:
Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet und du wirst gepeinigt. Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.
MUSIK
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Leben eines Menschen auf der Erde und dem, was danach kommt? Und wenn ja: Welchen? Zahlt sich ein rechtschaffenes, ehrliches, gottesfürchtiges Leben am Ende aus wie ein Guthaben auf einem großen Lebenskonto? Und umgekehrt: Wird Schuld wie Schulden gnadenlos verfolgt? Wird da von einem strengen Richter abgerechnet, wie es eine uralte Vorstellung der Menschen von einem jüngsten, letzten Gericht wissen will? So stellen wir uns das doch gerne vor: Wenn schon nicht auf der Erde, dann doch wenigstens im Himmel soll es den großen Ausgleich geben. Da ist nicht nur genug für alle da, da kommt dann die große Gerechtigkeit. Da werden die Armen reich und die Reichen ihres Lebens nicht mehr froh.
Die Umkehrung der Verhältnisse im Jenseits. Dieser Traum gehört zu den uralten Bildern, die die Menschheit wohl von Anbeginn begleiten. Ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Tod, wenn sie schon diesseits im Leben nicht zu erlangen ist. Schon im Altertum gab es viele Geschichten mit ungefähr der gleichen Pointe, in Griechenland, in Rom oder in Ägypten. Es gibt auch neutestamentliche Forscher, die vermuten, es handle sich um „volkstümliches Traditionsgut“. Vielleicht war es sogar eine Art Bänkelsang, den die Leute in den Hafenkneipen von Tyrus und in den Kaschemmen von Jerusalem gerne hörten, und immer hatte das Lied die gleiche Pointe: Wie der reiche Drecksack in Freuden lebte und der arme Lazarus im Dreck wühlen und sich von den Abfällen nähren musste. Und wie dann endlich im Himmel der gerechte Ausgleich erfolgte. Das hatte er nun davon, der eine wie der andere. Und das Publikum applaudierte.
Aber bei Jesus geht die Geschichte weiter, und sie erhält eine überraschende neue Richtung.
MUSIK
Zitator:
Da sprach der Reiche: So bitte ich dich, Vater, dass du Lazarus sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.
Wieder so ein uralter Traum der Menschheit: Ein Gestorbener möge wieder zurück kommen und endlich genau erzählen, wie es aussieht auf der anderen Seite. Sichere, verbürgte Kunde aus dem Jenseits. Der Reiche in unserer Geschichte hat dazu einen kuriosen Gedanken: Ausgerechnet Lazarus, der Bettler vor der Tür, soll die Brüder warnen, die wohl den gleichen Lebensstil pflegen wie der Verstorbene. Aber wenn nun wirklich und wahrhaftig jemand aus dem Tod zurückkehrte, müsste sie das nicht überzeugen?
Zitator:
Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.
Ende. Keine Botschaft, keine sichere Nachricht von drüben. Nicht für die Brüder des reichen Mannes und nicht für uns. Die Bibel spricht zu uns in Bildern und in Geschichten. Und die haben Menschen aufgeschrieben, so gut sie es sich vorstellen konnten. Ob die Hölle mit ihren Qualen für Übeltäter so ist, wie sie seit alters her vorgestellt wird – wer weiß? Eignet sich das Jenseits überhaupt für Projektionen diesseitiger Gerechtigkeitsträume oder auch Rachegelüste? Und wenn es so wäre: Würde sich ernsthaft auf dieser Erde etwas ändern? Die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus gibt darauf eine eindeutige Antwort.
In der Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus, die Jesus erzählt hat, wird auf Moses und die Propheten verwiesen. Das war die Bibel der damaligen Zeit, über Jahrhunderte aufgeschriebene Urkunde über den Weg Gottes mit seinem Volk Israel, eine uralte Geschichte des Glaubens. Unzählige Male erscheint dort das Thema Gerechtigkeit, und die Klage über das Unrecht zieht sich hindurch wie ein rotes Band. Zugleich aber wird wieder und wieder beschrieben, wie Gerechtigkeit wachsen kann. Was um Gottes willen geschehen müsste, damit Menschen menschenwürdig miteinander leben könnten. Und nichts hat sich geändert. Das ist es, was Jesus meint: Moses und die Propheten haben längst den Weg gewiesen. Kaum jemand hat auf sie gehört. Wenn aber schon diese ehrwürdigen Gestalten in der Vergangenheit nichts ausrichten konnten gegen die menschliche Gier nach Besitz und Herrschaft, dann würde sich sogar dann nicht viel ändern, wenn einer von den Toten auferstünde.
MUSIK
Die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus hält uns einen Spiegel vor. Auch wenn manche Einzelheiten uns fremd erscheinen mögen, das Bild ist deutlich: Der reiche Mann und der arme Lazarus stehen für die weltweite Trennung der Menschheit in reich und arm, wie sie bis heute täglich neu auf der Erde besteht und mit großer Macht aufrecht erhalten wird. Man könnte auch sagen: für jenen Himmel und jene Hölle, die Menschen anderen Menschen bereiten. Aber weder Engel noch Abraham werden je vom Himmel kommen, um uns daran zu hindern. Keiner wird aus dem Totenreich zurück kehren, um uns zur Ordnung zu rufen.
Wir kehren noch einmal zurück zum Anfang in jenes weiße Viertel oberhalb des alten Hafens am Mittelmeer. Der Bettler Lazarus, der vor dem Eingang der vornehmen Stadtvilla lag, ist verschwunden. Eine andere zerlumpte Gestalt hat seinen Platz eingenommen. Jenseits der weißen Mauern residiert ein neuer Besitzer. Der Türhüter gähnt. Es ist alles wie immer. Die Reichen bleiben reich und die Armen bleiben arm.
Aber immer gibt es Menschen, die sich damit nicht abfinden wollen. Sie folgen dem Lebenszeugnis des Mannes Jesus aus Nazareth, der die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus erzählte und der seinerseits die Botschaft von der Liebe Gottes zu den Menschen und seiner Leidenschaft zu Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit mit dem Leben bezahlte. Aber die Christen bezeugen: Jesus ist zurück gekommen aus dem Reich des Todes. Er tat, was Lazarus verwehrt blieb. Er lebt. Die Geschichte hat eine Wendung genommen. Und deshalb muss die Welt nicht bleiben, wie sie ist. Seit zweitausend Jahren wird dieses Zeugnis weiter getragen, und bis heute gibt es Menschen, die sich davon ergreifen lassen.
MUSIK