„You’ll never walk alone” von Gerry & The Pacemakers
Das ist schon Gänsehautgefühl pur, wenn ein ganzes Fußballstadion zusammen singt, so wie es hier die Fans von Sankt Pauli mit ihrem Vereinslied tun.
„You´ll never walk alone“. Zu deutsch: „Du wirst nie alleine gehen“ Schon merkwürdig: Ein ganzes Stadion voller Menschen singt mit tiefem Ernst gegen die Einsamkeit! Ein Fußballstadion ist eben ein Schmelztiegel vieler und intensiver Gefühle.
Wer kein Fan ist, der kann nur darüber staunen, dass ein Fußballspiel derartig aufwühlen kann. Als hinge das eigene Leben davon ab! Aber viele Fans erleben das so, jetzt zur Weltmeisterschaft der Frauen und sonst in den Ligaspielen. Eingebettet in die große Gemeinschaft des Stadions erleben sie die Höhen und Tiefen des Lebens: Die Niederlage lässt sie trauern und der Sieg jubeln. Und wenn ihr Verein versagt, dann fühlen sie sich enttäuscht und einsam. Verrückt genug: aber mitten in den größten Menschenmassen kann man sich ganz schön alleine fühlen. Deshalb tut es gut, gemeinsam zu jubeln, wenn ein geniales Tor fällt. Gemeinsam zu erschrecken, wenn ein böses Foul passiert. Gemeinsam aufzuatmen, wenn die Verletzten wieder aufstehen.
Eigentlich sind es die Gefühle, die auch sonst im Leben vorkommen. Das Fußballstadion ist nur wie ein Brennglas des Lebens. Fans können sich ganz und gar dem Spiel hingeben und ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Denn sie wissen, dass es nach kurzer Zeit zu Ende sein wird.
Sie erleben dabei, dass niemand das Spiel im Griff hat. Trotz teurer Spieler, trotz Kampfgeist und Strategie. Das Spiel entfaltet sich wie ein Schicksal, das man vorher nicht kennt und dem man letztlich ausgeliefert ist. Welche Macht steckt dahinter? Und wie komme ich damit zurecht? Das sind religiöse Fragen. Deshalb ist das Stadion auch ein Ort religiöser Erfahrung. Man kann dort nach Gott fragen. Viele Spielerinnen und Spieler sind religiös. Viele Fans sind es auch. Und das in einer großen Gemeinschaft. Es ist ein bisschen wie in einer Kirche. Kein Zufall, dass die Fangesänge ähnlich sind wie die liturgischen Gesänge im Gottesdienst mit einem Vorsänger und einem Antwortchor. Hier wie dort sollen die Lieder trösten und Mut machen. Und die Gemeinschaft beschwören. So wie die Urhymne alle Fangesänge: „Du wirst niemals alleine gehen“ – „You’ll never walk alone“.
Dieses Lied hat die Kraft, ein ganzes Stadion zu verzaubern – 50.000 Menschen, eine halbe Großstadt. Freund und Feind gemeinsam. Mich überrascht das. Eigentlich hätte ich als Nummer eins der Fußfancharts ein anderes Lied erwartet. Ein Kampflied, das vor Selbstbewusstsein nur so strotzt. Die meisten Fangesänge machen ja auch den eigenen Spielern Mut. Die gegnerischen Spieler sollen damit verunsichert und abgelenkt werden.
Aber das weltweit berühmteste Fanlied ist anders. Es lässt sich von keinem Verein vereinnahmen. Es lässt sich nicht gegen jemanden singen, sondern nur für jemanden. Es ist eine melancholische Ballade, die von der Einsamkeit singt. Das Lied greift etwas auf, das jedem Fan und vermutlich jedem Menschen insgeheim im Nacken sitzt: die Angst allein gelassen zu werden im Augenblick der Not.
Genau dort hat das Lied auch seinen Ursprung. Es stammt aus dem Broadway-Musical Carousel, das im April 1945 uraufgeführt wurde. Das Musical erzählt vom Schicksal eines armen Paares. Es erwartet ein Kind, aber es hat kein Geld, um das Kind ordentlich zu versorgen. Deshalb dreht der Vater ein krummes Ding und kommt dabei um.
Die Mutter bleibt mit dem Kind alleine zurück, in verzweifelter Lage. Der Mann kommt zu Gott, in den Himmel. Von dort will er den beiden Mut machen. Das tut er, indem er einen kleinen Stern aus dem Himmel zu ihnen auf die Erde bringt. Genau dazu erklingt das Lied: „You´ll never walk alone“. Ein Moment, der zu Tränen rühren kann. Doch die Dramatik steigt noch, denn das Kind kennt den Vater nicht. Es weist den Stern von dem vermeintlich Fremden zunächst ab. So bleibt offen, ob die Botschaft aus dem Himmel doch noch ankommt. Damals, 1945, in den letzten Monaten des zweiten Weltkrieges, traf das den Nerv vieler Mütter. Sie bangten oder trauerten um ihre Söhne und Männer. In ihren einsamen Stunden hatten die Frauen Funken der Hoffnung bitter nötig. So wurde das Lied zum Schlager und immer wieder neu gesungen.
Das tat 1963 auch die Band Gerry and the Pacemakers in der englischen Stadt Liverpool. Die Stadt ist die Wiege der europäischen Popmusik, die Heimat der Beatles und anderer Bands der ersten Stunde. Das muss hier erzählt werden, denn ohne diese Popsongs hätten die Fußballfans wohl nie singen gelernt. Sie lernten es zuerst in Liverpool, denn dort steht nicht nur die Wiege der Beatles, sondern auch das Fußballstadion von FC Liverpool mit seinen besonders fanatischen Fans. In dieser Stadt wurden die ersten Schallplatten der Popmusik in vielen Häusern aufgelegt und auch im Stadion. Das Lied: „You´ll never walk alone“ von Gerry and the Pacemakers gehörte dazu. Die Fans kannten es und sangen es im Stadion mit. Dann geschah es: die Musikanlage fiel aus. Aber die Fans sangen weiter. Ohne die Hilfe der Lautsprecher erfuhren sie ihre ureigene Kraft. Und die war enorm. Offenbar eine großartige Erfahrung! Das Lied wurde zur Hymne, die die Fans fortan vor jedem Spiel anstimmten. Heute kennen es die Fans aller englischen Clubs und viele andere weltweit. So wurde das Lied auch 2009 im Fußballstadion von Hannover gesungen – bei der Trauerfeier für den Torhüter Robert Enke, der sich in einsamer Depression das Leben genommen hatte. „Du wirst niemals alleine gehen?“ – Er war alleine gegangen und war damit der großen Angst erlegen, die in so vielen Menschen steckt. Das hat damals viele Menschen tief berührt.
Dagegen will das Lied Mut machen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Gerade wenn es schwer fällt. Der Text des Liedes lautet:
Sprecher:
Wenn du durch einen Sturm gehst, geh erhobenen Hauptes. Und habe keine Angst vor der Dunkelheit. Am Ende des Sturms gibt es einen goldenen Himmel und das süße, silberhelle Lied einer Lerche. Geh weiter, durch den Wind. Geh weiter, durch den Regen. Auch wenn sich alle Deine Träume in Luft auflösen. Geh weiter, geh weiter, mit Hoffnung in deinem Herzen. Und du wirst niemals alleine gehen.
Das Lied macht ein großes Versprechen: Du wirst niemals alleine gehen. Aber es sagt nicht, wie es eingelöst werden soll. Das kann es auch gar nicht. Im Fußballstadion mag das noch gehen. Da können sich die Fans als große Gemeinschaft erleben. Aber nach dem Spiel gehen alle nach Hause. Jeder in seines.
Die Herausforderungen des Lebens bleiben. Es bleibt auch die Sehnsucht, damit nicht alleine gelassen zu werden. So wirft das Lied letztlich die Frage auf: Wer begleitet mich? Diese Frage ist so alt wie die Menschheit und es gibt verschiedene Antworten darauf.
Eine davon ist auch schon uralt und dabei verblüffend nah an dem Lied. Es ist ein biblischer Psalm Der mit der Nummer 23. Er beschreibt die tiefe Gelassenheit eines Menschen, der sich ganz sicher begleitet weiß und wenn nötig auch getragen. Die Bilder des Liedes und des Psalms sind verblüffend ähnlich. Die Hoffnung, die das Lied nur einfordern kann, die benennt der Psalm 23 konkret: es ist die Barmherzigkeit Gottes. Und auch für den ersehnten Lebensbegleiter, der einen nicht im Stich lässt, hat der Psalm eine Gestalt: der Hirte, der sich sorgt. Der Psalm lautet:
Sprecher
„Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf eine grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führt mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“
Autor
Was für eine Ruhe und was für eine Gelassenheit dieser Psalm verströmt! Nicht immer ist das im wahren Leben so direkt zu spüren. Nicht immer erfüllt einen der Glaube mit einer solchen inneren Ruhe. Das zeigt Robert Enkes trauriger Tod. Aber man kann es so erleben, wie es der Psalm beschreibt. Und ich habe es selbst auch schon so erleben können. Gerade in großer Einsamkeit. Da konnte ich deutlich spüren, dass ich begleitet war von der Kraft Gottes, die es gut mit mir meint und die mir auf die Beine helfen will.
Wie das geschieht und wo, das ist bei jedem Menschen anders. Fußballerinnen und ihre Fans spüren es womöglich in den nächsten Wochen bei der Frauen WM im Stadion – vielleicht am besten beim Singen.