hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Meier, Johannes

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Journalist, Kassel

„Es ist vollbracht!“

„Es ist vollbracht!“

„Es ist vollbracht!“ – Laut biblischer Überlieferung im Johannesevangelium sind das die letzten Worte, die der gekreuzigte Jesus sagt. Danach neigt er sein Haupt – und stirbt. Am Karfreitag erinnern sich Christen an Jesu Leiden und Sterben. „Es ist vollbracht!“ – Ich bin ziemlich sicher, dass seine letzten Worte damals, von den Menschen, die sich um die grausige Szenerie der Kreuzigung versammelt hatten, kaum richtig verstanden worden sind.

„Es ist vollbracht!“ – Für die römischen Soldaten, die die Vollstreckung des Todesurteils bis zum letzten Atemzug des Gekreuzigten überwachen mussten, die vor Langeweile bereits mit einem makaberen Würfelspiel um das letzte Hab und Gut des Todeskandidaten begonnen hatten, die nach einem harten und gefährlichen Arbeitstag voller Staub, Schweiß und Blut endlich zurück in ihre Kaserne und zum abendlichen Trinkgelage wollten, mit dem sie die grausamen Bilder des Tages, ihren Frust und ihr Heimweh zu ertränken pflegten, für die römischen Soldaten mag dieses „Es ist vollbracht!“ einfach nur „Es ist erledigt! Feierabend! Schicht im Schacht!“ bedeutet haben.

„Es ist vollbracht!“ – Für den jüdischen Hohenpriester, für das machtbewusste Establishment, für diejenigen also, die nach biblischer Überlieferung den Prozess gegen Jesus ja erst angestrengt hatten, die hartnäckig die Vorbehalte des römischen Statthalters Pilatus zerstreuten und sogar die Begnadigung eines überführten Mörders der Verschonung Jesu vorzogen, die sich vor allem nach Ruhe und stabilen Machtverhältnissen sehnten, die sich mit den römischen Machthabern arrangiert und ihren eigenen Herrschsaftsbereich zu behaupten gelernt hatten, für die Hohenpriester und ihr Gefolge mag dieses „Es ist vollbracht!“ einfach nur bedeutet haben: „Jetzt herrscht endlich wieder Stabilität! Ein Störenfried weniger! Noch mal gutgegangen. Zurück zur Tagesordnung!“

„Es ist vollbracht!“ – Für die Unbeteiligten, die aus allen Gassen Jerusalems herbeigeströmten Menschen, für die Schaulustigen, die sich bei jedem Unglück und jeder öffentlichen Hinrichtung versammelten, eben überall dort wo etwas Sensationelles passierte, wo sie Ablenkung vom eigenen tristen Alltag zu finden hofften, für die Verängstigten, die kopfschüttelnd die Grausamkeiten beobachteten, die heimlich über die römischen Besatzer und den religiösen Fanatismus ihrer Landsleute fluchten, die einfach froh waren, dass es sie selbst nicht getroffen hatte, für das verängstigte oder schaulustige Volk mag dieses „Es ist vollbracht!“ einfach nur bedeutet haben: „Ende der Vorstellung! Ab nach Hause! Hier gibt´s nichts mehr zu sehen!“

- Musik -

„Es ist vollbracht.“ – Wie mögen diese letzten Worte des sterbenden Jesus für seine engsten Vertrauten und Freunde geklungen haben? Für seine Jünger, für den kleinen Kreis, mit dem er noch tags zuvor bei Brot und Wein zusammen gesessen hatte? Für die Gefährten, die ihm noch in der unheimlichen Nacht im Garten Getsemane nah waren? Für Petrus, der ihn erst todesmutig mit dem Schwert verteidigen wollte und ihn kurz darauf dann doch verleugnete? Wie mögen die letzten Worte des sterbenden Jesus geklungen haben für seine Mutter, für Maria Magdalena, für seinen Ziehsohn und engsten Freund Johannes? Für diese drei, die Jesus wohl in den letzten Minuten seines Lebens am nächsten waren, die unter dem Kreuz kauerten, tränenblind, taub und gelähmt vor Entsetzen, für sie wie auch für alle anderen Anhänger Jesu, die in ihn ihre Hoffnungen gesetzt hatten, muss dieses „Es ist vollbracht!“ wohl zuerst einmal bedeutet haben: „Nun ist alles aus und vorbei. Jetzt gibt es keine Zukunft mehr. Alles ist sinnlos, jetzt, wo Jesus tot ist.“

Die Bibel berichtet dann von einem Mann namens Josef von Arimathäa. Auch er war wohl ein Anhänger Jesu und wollte seinem zugrunde gerichteten Vorbild nun wenigstens die letzte Ehre erweisen. Er stellt eine Grabhöhle zur Verfügung und sorgt so für eine ordentliche Totenruhe. Der geschundene Leichnam Jesu wird gewaschen und schließlich in Leinentücher gehüllt. Gekreuzigt, gestorben und begraben. Hinabgestiegen in das Reich der Toten. Ein großer Stein verschließt am Ende die Grabstätte.

Der Stein, hinter dem der Leichnam Jesu im Dunkel verschwindet, dieser Stein, der zunächst das absolute Ende aller Hoffnung zu sein scheint, ich entdecke in ihm so etwas wie eine Brücke Gottes zu uns Menschen. Nein, nicht erst am dritten Tage, wenn er am Ostermorgen plötzlich beiseite gerollt neben dem offenen Grab liegt und so zum Zeichen der Auferstehung wird, sondern gerade jetzt, wo er schwer und unverrückbar den Tod zu besiegeln scheint. Denn Gott selbst liegt ja hinter diesem Stein in der Todesnacht! Er hat sich mit Jesus hineinbegeben in die Todeszone, mitten hinein in das, was uns Menschen am meisten Angst macht. Er ist zum mitleidenden Gott geworden, er hat Schwäche gezeigt. Eine unüberbietbar große Schwäche für uns Menschen.

- Musik -

Steine gehören zu unserem Leben genauso wie der Tod. Steine, mit denen wir unsere Häuser bauen, Steine mit denen wir uns schmücken, Steine, die unseren Namen tragen – auf unserm Grab. Und dann sind da die Steine, die wir in uns tragen. Nein, ich meine nicht etwa Gallen- oder Nierensteine. Es geht vielmehr um die dunklen Dinge, die die Seele belasten oder schwer im Magen liegen. Ich bin sicher: Solche Steine trägt jede und jeder von uns mit sich herum. Wenn es geht, dann heimlich und verborgen, nicht etwa stolz und goldgefasst am Hals oder Finger. Nein, hier geht es nämlich um die peinlichen Verlierer-Steine, die hässlichen SchuldSteine und die kantigen Angst-Steine in uns. Niemand möchte das ja sein: Verlierer oder Schuldiger oder Angsthase. Lieber sind wir Siegertypen, Rechthaber und mutige Helden. Lieber decken wir die Schwächen von anderen auf, als unsere eigenen zuzugeben. Auch daran kann der Karfreitagsstein vor Jesu Grab uns heute erinnern.

Genau das ist auch das Thema einer weiteren Stein-Geschichte im Neuen Testament der Bibel: Auch in ihr geht es um eine Todesstrafe. Eine junge Frau soll gesteinigt werden, weil sie angeblich ihren Mann betrogen hat. Feindselig und selbstgefällig umringen sie die Menschen: Endlich mal jemand, der erwischt worden ist, endlich mal jemand, an dem man seine Wut auslassen kann. Eine gute Gelegenheit, um von den eigenen Fehlern und Schwächen abzulenken. Aber es kommt anders: „Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“, sagt Jesus. Da halten die Leute inne, da werden sie auf einmal alle peinlich berührt. Sie lassen die Steine fallen und gehen nach Hause.

Auch wir können heute unsere Steine fallen lassen. Am Karfreitag und alle Tage will Gott uns nahe sein. Er weiß, was unsere Seele schwer macht, ihm können und müssen wir nichts vormachen. Denn Gott hat eine Schwäche für uns – ihm dürfen wir auch unsere Schwächen zugeben und anvertrauen. Mit Jesu Tod am Karfreitag wurde sie ein für allemal errichtet, die steinerne Brücke zwischen Gott und den Menschen. Ja, es ist vollbracht.