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Auksutat, Ksenija

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Stockstadt

Demenzkranke Menschen besser verstehen

Demenzkranke Menschen besser verstehen

I

Als Pfarrerin mache ich oft Besuche bei Älteren. Schnelle merke ich, wenn jemand geistig nicht mehr auf der Höhe ist. Auch wenn die Angehörigen mir das nicht so sagen können oder wollen. Am schwersten fällt es den meisten das auszusprechen, wenn ihr Ehepartner an Demenz erkrankt ist.

So hilflos stehen sie neben ihrem vertrauten Partner, wollen doch seine Würde wahren, wissen nicht, wie sie Fremden gegenüber damit umgehen sollen.

Neulich zum Beispiel bat mich eine Frau, ihren Mann im Pflegeheim zu besuchen. Sie druckste ein wenig herum, es sei doch so etwas Besonderes, wenn die Pfarrerin kommt, aber: „Es kann sein, dass mein Mann Sie gar nicht erkennt, Frau Pfarrerin“, sagte sie. „Er versteht einfach oft nicht, was los ist. Gestern, da hat er nicht mal unsere Tochter erkannt, ach, schlimm ist das,“ stöhnte sie und schwieg.

In ihren Augen war der Besuch einer Pfarrerin etwas wichtiges, und sie hatten schon als Kind gelernt, dass man sich respektvoll zu verhalten hat, wenn die Geistlichkeit kommt, das hatte sie geprägt. Und nun war sie voller Sorge, dass ich mich vielleicht ärgern würde, wo ihr Mann doch anscheinend gar nichts mehr richtig versteht.

Als Pfarrerin weiß ich, dass die Krankheit Demenz einen Menschen bis in seine Persönlichkeit verändern kann.

Doch anders als nahe Angehörige bin ich darüber nicht enttäuscht. Mir als Außenstehender macht es vielleicht weniger aus, jemanden so anzunehmen, wie er oder sie im Augenblick gerade ist. Gott ist gerade im Leid nah, das glaube ich ganz fest.

Und ich habe oft erlebt, dass bei aller Veränderung im Gemüt der demenzkranken Menschen viele Tiefenschichten intakt bleiben. Und im Glauben geht es ja fast immer um solche Tiefenschichten des Lebens.

So ist es auch, wenn wir bei einem Besuch zusammen beten. Demenzpatienten sind ja oft geistig sehr abwesend. Manchmal unruhig, manchmal starren sie einfach vor sich hin. Aber wenn ich dann die Hände falte und zu beten beginne, wird mein Gegenüber wach, das Gesicht strafft sich, die Augen suchen Blickkontakt, manchmal bewegen sich sogar die Lippen.

Aus den Tiefen taucht diese Regung auf. Als ob eine Erinnerung wach wird. Vielleicht an die Mutter, die abends vor dem Zu-Bett-gehen mit ihren Kindern gebetet hat. Oder an den Vater, der sonntags vor dem Essen ein Tischgebet sprach.

Vor allem sehr bekannte Gebete wie das Vater unser oder der Psalm vom guten Hirten sind vielen vertraut. Dass man daran anknüpft, macht demenzkranke Menschen – glücklich!

Das hat eine Studie jetzt nachgewiesen.

II

Trotz ihrer schweren Erkrankung können Menschen mit Demenz noch Glück empfinden. Was aufmerksame Angehörige schon lange wissen, haben Psychologen der Universität Witten-Herdecke nun erforscht. Sie haben mehr als 60 demenzkranke Menschen in ihrer Lebensumgebung genau beobachtet.

Den ganzen Tag über schauten sie zu, womit jemand sich beschäftigte und wie zufrieden er oder sie damit war. Im 5-Minuten-Takt wurden die Beobachtungen festgehalten. Das Ergebnis: Zwei Erfahrungen machten die Demenzkranken froh, entspannt, man kann sagen - glücklich.

Alltagsaufgaben erledigen und – einen Gottesdienst miterleben. Am glücklichsten waren in dieser Studie die Frauen, wenn sie beim Geschirr spülen helfen konnten.

In einer Hausgemeinschaft hatten die Mitarbeitenden das Spülen als gemeinschaftliche Aktivität eingeführt. Auf dem Tisch stehen mehrere Spülschüsseln, so dass bis zu acht Bewohnerinnen gleichzeitig mitmachen können. Die verschiedenen Arbeitsschritte waren allen so vertraut, dass auch die Bewohner mit einer schweren Demenz voll Freude dabei waren, das hat hat man gemerkt, weil die Frauen gelächelt haben, ruhig und zufrieden waren, aktiv den Blickkontakt gesucht haben.

Eine der Frauen erinnerte sich ans Kuchen backen. Sie konnte erklären, was man alles zum Kuchenbacken braucht und wie er angerührt werden muss. Und als sie schließlich eine Rührschüssel auf dem Schoß hatte – sie saß im Rollstuhl – und einen Mixer dazu bekam, da war sie richtig froh. Wahrscheinlich würde man sie glücklich machen, wenn man ihr jeden Tag diese Aufgabe geben würde.

Eine andere Frau war immer sehr unruhig, wenn die Besucher da waren. Sie wanderte stundenlang hin und her und litt sichtlich unter diesem zwanghaften Drang. Bis jemand auf die Idee kam, ihr einen Besen in die Hand zu geben und sie zu bitten, den Raum zu fegen. Von dieser Aufgabe war sie begeistert und fegte drauflos.

Manchmal aber kommen demenzkranke Menschen auch aus solchen eigentlich guten Aufgaben nicht wieder heraus. Das, was sie tun, kippt sozusagen in einen inneren Automatismus wie ein Zwang.

Deshalb probierten die Mitarbeiter eine freundliche Unterbrechung aus. Sie lobten die Dame für ihren Fleiß und boten ihr eine Apfelsaftschorle an, damit sie sich erfrischen könnte. Dankbar ließ sie sich so aus ihrer Aktivität heraus führen.

Die Studie zeigt zweierlei: Menschen brauchen Aufgaben und sie brauchen seelischen Halt. Und sie suchen ihn auch bei Gott, wie das zweite Ergebnis der Studie zeigt. Die Kranken sind eben auch bei Gottesdiensten besonders glücklich.

Aber wie geht das denn? Wie können Menschen, die nicht einmal ihre engsten Familienmitglieder erkennen, mit Gott Kontakt aufnehmen?

III

Auch Gottesdienste im Altenheim schenken Demenzkranken ein hohes Maß an Zufriedenheit. Dazu tragen viele kleine Dinge bei.

So, wie man sich früher am Sonntag fein gemacht hat, wird man für den Weg zum Andachtsraum im Pflegeheim vorbereitet. Die Haare werden noch einmal gekämmt, man wird abgeholt und zum Gottesdienst gebracht.

Der Raum ist meist schön erleuchtet, am Altartisch brennen Kerzen, Blumen, die Bibel und ein Kreuz stehen darauf. Die Klänge der Choräle, auch wenn die Musik dazu nur von der CD kommt, stimmen auf den Gottesdienst ein. Und am Ende einer gottesdienstlichen Feier wirken die meisten Besucher glücklich und entspannt.

Auch die Studie der Universität Witten-Herdecke konnte das in vollem Umfang bestätigen. Sie beobachteten zum Beispiel, wie ein Herr im Rollstuhl, der zuerst einen apathischen Eindruck machte, zunehmend wacher und konzentrierter wurde, seine Körperspannung nahm zu, er neigte sich aktiv in Richtung des Pfarrers, der die Andacht leitete.

Auch wenn ich bei einem Besuch Abendmahl feiere, ist das spürbar. Bevor Brot und Wein gereicht wird, sage ich die alten Worte: „Schmeckt und seht, wie freundlich unser Gott ist!“ Und ein demenzkranker Patient benetzte sich unwillkürlich die Lippen. Er war aufmerksam und trank den Wein voller Genuss. Gott erreicht offensichtlich auch Menschen, die durch wenig sonst noch erreichbar sind.

Ich erlebe es immer wieder: Beten und arbeiten – das macht unsere Geschöpflichkeit vor Gott aus.

Das Leben ist nicht nur auf den beruflichen Erfolg, auf Leistung und Verdienst hin geschaffen. Auch, wenn es für die Angehörigen oft unglaublich schwer auszuhalten ist: Niemand ist überflüssig, nur weil er nichts mehr zu leisten imstande ist. Das Leben verliert nicht seinen Wert, weil es anders ist als das sogenannte normale Leben

Wir erfahren unser Menschsein darin, dass wir etwas bewirken können. Und indem wir uns darauf verlassen können, dass Gott uns nahe ist, auch wenn das Gebet gestammelt wird oder auch manchmal verstummt.

Das trifft auch für Demenzkranke zu. Sie haben ein Anrecht, zufrieden zu sein und glückliche Momente zu erleben. Auch kleine Aufgaben können das bewirken. Und ein Gebet kann ihrer Seele neue Geborgenheit schenken.

Pflegekräfte, die Kirchen, Angehörige und letztlich die ganze Gesellschaft sollten dafür sorgen, dass dies bis zum Ende ermöglicht wird.