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Alles ist möglich

Gabriele Heppe-Knoche
Ein Beitrag von Gabriele Heppe-Knoche, Evangelische Pfarrerin, Kassel
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Heute feiern wir Pfingsten. Seit 50 Tagen liegt Ostern nun schon hinter uns - das Fest der Auferstehung Jesu. Schon fast vergessen. Das geht schnell bei all den täglichen Aufgaben.

Der Evangelist Lukas erzäht, was damals 50 Tage nach Jesu Auferstehung geschah 

Aber das war wohl schon damals so. Auch bei den Jüngerinnen und Jüngern Jesu haben die Erfahrungen mit dem leeren Grab, die Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus, erstmal keine nachhaltige Wirkung hinterlassen. Der Evangelist Lukas erzählt in der Apostelgeschichte im Neuen Testament davon, was 50 Tage nach Ostern geschah. 

Die Jüngerinnen und Jünger sind wie gelähmt

Die Geschichte geht so: Die Jünger sind alle zusammen in einem Haus. Sie verstecken sich dort, sind wie gelähmt. Fühlen sich mut- und kraftlos. Das war für sie eine schwierige Zeit nach Karfreitag und nach Ostern. Der Tod Jesu macht sie immer noch traurig. Er fehlt in ihrer Mitte. Und die grausamen Bilder im Kopf von seiner Verhaftung und seiner Kreuzigung werden sie einfach nicht los. Selbst die Begegnungen mit dem Auferstandenen zeigen keine nachhaltige Wirkung.

Das kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen. Das sollte doch der entscheidende Impuls sein. Ihnen neue Hoffnung geben, dass die Sache Jesu weitergeht. Aber da ist viel Skepsis und Unglaube geblieben. Haben sie sich das vielleicht alles nur eingebildet in ihrer Verzweiflung? Oder haben sie Visionen gehabt- Traumbilder? Sie sind unsicher und haben Angst. Auch sie stehen weiter unter Verdacht wie Jesus Unruhe im Volk zu stiften.

Keiner weiß, wie es weitergehen wird

Immerhin sind sie nach alldem nicht einfach auseinandergelaufen. Sie sind zusammengeblieben. Aber sie haben sich verkrochen. Sie bleiben zuhause, gehen nur nach draußen, um die allernötigsten Wege zu erledigen. Ihre Angst können sie nicht verdrängen und die Unsicherheit bleibt. Jesus wurde getötet. Alles ist anders geworden als erwartet und erhofft. Und keiner weiß, wie es weitergehen wird.

So vergeht Tag um Tag. Mit der Zeit wird es nicht besser. Zuerst staunten sie nur über das, was sie Ostern erlebt hatten. Aber schon bald spüren sie: sie haben einfach keinen Schwung mehr, keine Kraft in sich. Das war alles zu viel. Und je mehr sie sich von allen zurückziehen, je mehr sie ihre Kontakte reduzieren, umso mehr nimmt ihre innere und äußere Antrieblosigkeit zu.

Musik: Heinrich Ignaz Franz Biber, Das Kommen des heiligen Geistes

Wir bleiben zuhause - ein Slogan der Coronazeit

Wir bleiben zuhause. Das war ein Slogan, den wir zu Beginn der Coronapandemie auch an vielen Stellen lesen konnten. Von Regierungsseite groß plakatiert. Aber auch manche meiner Freunde und Bekannten hatten diesen Slogan in Ihre Mails und Handynachrichten eingefügt. Und fast alle sind wir diesem Motto strikt gefolgt. Wir blieben zuhause. Beim Einkauf mal kurz durch den Supermarkt gehuscht, natürlich mit Maske. Und mit den Nachbarn nur ein kurzer Gruß über den Gartenzaun, aber mit deutlichem Abstand. Gespräche mit Freunden, ja selbst mit Verwandten nur am Telefon. Und das über Wochen und Monate. Heute kaum noch vorstellbar.

Aber im Rückblick auf diese Zeit und diese schwierigen Erfahrungen wissen viele von uns inzwischen: So eine Zeit geht nicht spurlos an vorüber. Das macht etwas mit uns. Wir sind soziale Wesen, auf Kontakte angelegt. Fast niemand ist sich selbst genug. Ich bin überzeugt: Wir brauchen andere, mit denen wir uns austauschen können. Wir brauchen vertraute Menschen um uns, die uns aufmerksam und freundlich begleiten. Und wir brauchen sogar die, die uns fordern mit ihrer Art, mit ihren Ideen, die, an denen wir uns manchmal reiben. Sie alle sorgen dafür, dass wir nicht irgendwann behäbig und dumpf in den immer gleichen Trott zurückfallen.

Auf direkte Kontakte zu verzichten, fiel immer schwerer

Manche sind mit der Situation zu Beginn der Coronazeit noch ganz gut zurechtgekommen. Man kann ja auch auf anderen Wegen Kontakte halten, über Telefon oder WhatsApp zum Beispiel. Aber selbst die, die damit gut zurechtkamen, wurden irgendwann müde und mürbe. Und bei anderen, denen es eher schwerfällt, auf direkte Kontakte zu verzichten, da lagen inzwischen die Nerven blank. Die Stimmung wurde gereizt und der Umgangston wurde zunehmend rauer. Anfangs hatten wir noch geglaubt, das alles ginge innerhalb des ersten Jahres zu Ende. Aber dann folgte Welle auf Welle.  Ich fühlte mich manchmal wie gelähmt. Ausgebremst. Da war lange kein Silberstreifen am Horizont zu sehen, der ein Ende der Pandemie hoffen ließ.

Immer neue Krisen schüren Ängste

Und als wir dann endlich doch wieder ein einigermaßen normales Leben führen konnten, da kam anderes, was Ängste und eine große Unsicherheit ausgelöst hat. Der russische Überfall auf die Ukraine und damit ein Krieg in Europa. Wer hätte gedacht, dass das nach so vielen Jahren der Annäherung und einem friedlichen Nebeneinander passiert?

Dann die Energiekrise und die Angst vor einem kalten Winter. Da hat jeder Einzelne gespürt, wie gefährdet das so selbstverständlich scheinende Leben auch hier in Deutschland ist. Der Überfall der Hamas auf Israel und die grauenhaften Folgen auf beiden Seiten. Dazu das Erstarken rechter Bewegungen und die autokratische Politik in den USA.

Die latente Unsicherheit lähmt

Eine negative Nachricht jagt die andere. Das zermürbt mit der Zeit selbst Optimisten wie mich. Das drückt einen nieder, so dass ich an manchen Tagen keine Nachrichten mehr hören und sehen möchte. Und ich spüre, dass es anderen auch so geht. Umfragen belegen immer wieder, dass viele Menschen mit Angst in die Zukunft sehen. Diese latente Unsicherheit lähmt und macht müde.

Mit diesen Erfahrungen im Hintergrund ist mir die Pfingsterzählung so nahegerückt wie noch nie. Ich kann nachempfinden, wie sich die Jünger wohl gefühlt haben, die voller Angst zuhause hocken und keine Kraft und keine Hoffnung mehr haben. Aber ist das alles, was ich aus der Erzählung ziehen kann?

Musik: Georg Friedrich Händel, Tempesta di Mare

Neue Kraft durch Wind

Die Pfingstgeschichte erzählt davon, wie die Jünger wieder neu Kraft, Hoffnung und Energie gewinnen. Windkraft! Die Jünger hören ein Brausen. Ein gewaltiger Wind erfüllt das Haus. Ich habe Bilder vor Augen: Türen schlagen auf, Gardinen wehen. Dieser Wind erfüllt das Haus mit frischer Luft. Er rüttelt sie auf aus ihrer dumpfen Stimmung. Das, was sie bedrückt und lähmt, wird hinweggepustet und die Köpfe werden frei für neue Eindrücke und Gedanken. Es passiert etwas mit ihnen.

Der Heilige Geist erfüllt die Jünger und Jüngerinnen mit neuem Mut

Die Geschichte kann es nur im Bildern erzählen. Auch Feuerzungen erscheinen über ihren Köpfen, heißt es da. Ein neuer Geist erfüllt sie und treibt sie an. Es ist der Heilige Geist - der Geist Gottes, der ihnen geschenkt wird. Er verändert sie. Er lässt sie wieder Gottes Liebe spüren, die Jesus gepredigt und gelebt hat. Und so nimmt dieser Geist ihnen die Angst vor den Herausforderungen und macht sie mutig.  Treibt sie nach draußen auf die Straßen, zu den Menschen. Mit allen können sie plötzlich sprechen, ohne Angst. Und jeder versteht und spürt, dass Gottes Geist und Gottes Liebe aus ihnen spricht.

Ein Impuls von außen ist nötig

Wieder Kraft und Hoffnung bekommen. Das wäre schön, auch heute. Das wünsche ich mir. Aber ich kann diese Energie nicht selbst in mir produzieren. Genauso wenig wie die Jünger es damals konnten. Es braucht, wie in der Pfingstgeschichte, einen Impuls von außen.  Etwas, das mich wie ein Windstoß durchfährt und in Gang setzt. Das ist ja mit ganz vielen wesentlichen Erfahrungen so. Wir brauchen das fremde Wort. Wir brauchen einen Impuls von außen. Natürlich kann ich mir selbst immer wieder sagen, dass ich ein liebenswerter Mensch bin. Aber es stärkt und bewegt mich vielmehr, wenn ein anderer zu mir sagt: „ich liebe dich“ oder „ich hab dich gern“. Das erfüllt mein Herz. Das wirkt nach.

Begegnungen mit anderen Menschen geben Energie

Dieses fremde Wort kann ich nicht hören, wenn ich nur in meinen eigenen vier Wänden bleibe. Wenn ich mich im wahrsten Sinn des Wortes verschließe.  Ich brauche den Kontakt mit anderen. Ich muss hinaus. Ich brauche die Begegnung mit anderen Menschen, bekannten und unbekannten. Denn durch sie kann mich dieses Wort, ein neuer Impuls erreichen. So kann der heilige Geist der Liebe mein Herz erfüllen und neue Energie freisetzen. Ich bin sicher: Solch ein Impuls, solch ein Wort, das begeistert und mit frischer Energie erfüllt, kann uns überall begegnen. Manchmal ganz stark und überwätigend.

Der Mauerfall 1989 - Ein Ereignis, dass viele tief berührte

Ich denke zum Beispiel an den Mauerfall 1989. Das war so ein Ereignis, das sich tief in das Gedächtnis der Generation eingebrannt hat, die das direkt miterlebt hat. Mit Kerzen und Gebeten - mit Gottvertrauen haben Menschen etwas in Gang gesetzt.

Ich weiß noch genau, wie ich damals ungläubig auf die Bilder im Fernsehen starrte. Auf die jubelnden Menschen, die zu Fuß oder mit ihren Trabis die Grenze von Ost- nach Westberlin überquerten. Wie Wildfremde sich in die Arme fielen und wie viele weinten vor Glück.

Das war so besonders, dass ich am Abend die kranke, herrenlose Katze bei mir aufnahm, die schon seit Wochen versuchte in unserer Straße einen Unterschlupf zu finden. Sie hat es mir viele Jahre gedankt.  Auch von anderen habe ich gehört, dass sie berührt von diesem Moment einfach etwas Gutes getan haben, in der Nachbarschaft oder in einem Zentrum, in das Menschen kamen, um ihre neue Freiheit zu genießen. Dass sie gefeiert haben in den Gärten mit den Nachbarn oder einfach auf den Straßen.

Ein Zeichen für Gottes Wirken

Für mich ist dieses Ereignis auch ein Zeichen für Gottes Wirken. So ist das, wenn Gott seinen Geist über uns brausen lässt, der alles verändert. Da bleibt keiner unberührt. Da wird das Herz weit und die Hoffnung groß.

Musik: Scorpions: Wind of Change

So ein Ereignis wie den Mauerfall erlebt man nicht alle Tage. Vielleicht einmal in hundert Jahren. Aber dass Menschen von Gottes Geist berührt und ergriffen werden, das gilt nicht nur für epochale Ereignisse. Das kann auch ganz leise und unauffällig geschehen. Jederzeit.

Gottes Geist wirkt auch leise und unauffällig

Vielleicht ergreift mich Gottes Geist in einem Gottesdienst, wo mich ein Satz oder eine Liedzeile so anspricht, so in meine Situation hineinspricht, dass ich mich verstanden und getröstet fühle. Mit diesem Satz kann ich dann gestärkt und fröhlich weitergehen.

Genauso kann mir auch beim Einkauf im Supermarkt ein ermutigendes Wort begegnen. Ein kurzes Gespräch mit der Frau an der Kasse. Ein paar Sätze nur, ein freundliches Lachen. Sie wünscht mir zum Abschied einen schönen Tag. Dann steht schon der nächste Kunde bereit. Sie zieht weiter die Waren über den Scanner. Wie schon den ganzen Vormittag. Konzentriert und freundlich, mit einem Lächeln im Gesicht. Ich bin beeindruckt.

Ein kurzer Moment kann viel bewirken

Auf dem Weg zum Parkplatz spüre ich, wie ihre Freundlichkeit in mir weiterwirkt, mich froh macht. Der Funke ist übergesprungen. Ich biete dem alten Herrn, der auf den Eingang zugeht, gleich meinen leeren Einkaufswagen an. Er greift erfreut zu. So kann es weitergehen. Ein kleiner Anstoß, eine kleine Geschichte. Und doch erstaunlich, was ein kurzer Moment bewirken kann. Wie die Stimmung umschlägt und das Herz weit wird. Überall kann es geschehen. In der Familie, bei einem Spaziergang, auf dem Spielplatz.

Gottes Geist belebt Menschen, wann und wo er will. Durch eine freundliche Geste, durch ein zufälliges Gespräch, durch ein Erlebnis in der Natur. So wie der Wind, der weht, wo er will. Gottes Geist kann uns treffen, durch alles, was uns aus dem Kreisen um uns selbst und aus unseren düsteren Gedanken herausreißt. Das öffnet uns für die Menschen, für die Welt um uns herum.

Musik: Johannes Eccard, Der heilig Geist vom Himmel kam

Nach 50 Tagen hat sich das Leben der Jünger plötzlich verändert

Aus der Pfingstgeschichte lese ich heraus: Es ist wichtig mich nicht zu verschließen, offen zu sein für Gottes Geist und seine Ermutigungen. Dabei hilft es, mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben. Die Jünger waren 50 lange Tage zusammen, haben Angst und lähmende Unsicherheit miteinander ausgehalten. Dann aber haben sie auch miteinander erlebt, wie sich plötzlich alles verändert hat. Wie Leben und Lebensfreude zurückgekehrt sind. Wie es sie nicht mehr im Haus gehalten hat. Wie sie wieder auf andere zugehen konnten. Wie ihr Leben sich verwandelt hat. Von einem Tag auf den anderen.

Pfingsten zeigt, dass sich alles ändern und verwandeln kann

Pfingsten erinnert mich immer wieder neu: Nichts muss so bleiben, wie es ist. Im Großen wie im Kleinen. In der Weltgeschichte und auch in einem einzelnen Menschen. Alles kann sich verändern, kann sich verwandeln. Alles ist möglich. Manchmal vergesse ich das, weil ich nur auf das Schwierige sehe, weil ich mich gefangen nehmen lasse von all dem, was mich erschreckt und bedrückt.

Die Pfingstgeschichte erzählt, wie ängstliche Menschen wieder neuen Mut fassen, wie sie ihre Unsicherheit und ihre Müdigkeit überwinden. Daraus wurde eine neue Bewegung.

Pfingsten, die Geburtsstunde der Kirche

Pfingsten ist die Geburtsstunde der Kirche. Da beginnt etwas Neues, was sich über die Jahrhunderte hinweg fortgesetzt, auch und gerade dann, wenn die Kirche sich selbst in starren Formen und Normen lähmt. Auch unter politischem Druck und in Zeiten der Verfolgung. Die Kirche lebt noch und in ihr und mit ihr und weit über sie hinaus Gottes Geist.

 Pfingsten: das ist die Erinnerung an das große Brausen Gottes, an den Geist, der die Gedanken frei, die Herzen weit und die Menschen lebendig macht.

Diese Erinnerung will ich in mir bewahren. Sie stärkt mich in schweren Zeiten. Sie verscheucht die düsteren Gedanken in mir. Alles kann sich verändern, alles kann sich verwandeln. Alles ist möglich. Das ist die Botschaft.

Musik: Heinrich Schütz, Alleluja! Lobet den Herren in seinem Heiligtum

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