
Da ergriff sie Entsetzen
Ich lege es wirklich nicht darauf an. Ich möchte es auch gar nicht. Aber ich kann mich nicht in Luft auflösen. Und so höre ich unfreiwillig Handygespräche mit, die meine Mitmenschen mehr oder weniger lautstark führen. Sozusagen als „Ohrenzeugin“.
Manchmal „erwischt“ mich ein solches Gespräch im Zug. Manchmal in der Schlange im Supermarkt. Manchmal im Wartezimmer eines Arztes. Zwar kann ich mittlerweile ganz gut „weghören“, aber ich bekomme in der Regel trotzdem mehr mit, als mir lieb ist. Nur einmal nicht. Da hätte ich gern mehr gehört. Einmal hätte ich gern mehr erfahren. Ich hätte gern gewusst, wie dieser eine Satz, den ich mitgehört habe, gemeint war. Aber ich kam einfach zu spät dazu und musste auch sofort wieder weiter. Der Satz lautete – und ich habe die Frau noch immer vor Augen, wie sie ins Handy sagt: „Und dann kommt Ostern – einfach entsetzlich!“
Unangenehme Erinnerungen oder Gefühle
„Und dann kommt Ostern – einfach entsetzlich!“ Dieser Satz hat mich nicht losgelassen. Warum sollte Ostern für diese Frau entsetzlich sein? Vielleicht, weil Ostern ein Fest ist und weil ein Fest in der Regel mit Vorbereitungen verbunden ist und weil diese oft jede Menge Stress bedeuten. Vielleicht aber auch, weil über die Osterfeiertage die ganze Familie zusammenkommt und damit unter Umständen Probleme und Streitigkeiten vorprogrammiert sind. Vielleicht graute es der Frau auch vor dem tagelangen Festessen. Oder sie verband ein ganz bestimmtes Osterfest mit negativen Erinnerungen oder mit unangenehmen Gefühlen. Vielleicht haben sich die Gäste oder sie selbst einmal gelangweilt oder sie war traurig oder fühlte sich einsam.
Ich weiß bis heute nicht, warum Ostern für diese Frau entsetzlich ist. Aber mir ist mittlerweile klargeworden: Sie hat Recht. Ostern ist tatsächlich ein „entsetzliches“ Fest. Warum? Das erzähle ich nach der Musik.
Musik: Christoph Graupner, Konzert A-Dur, GWV 337, 1. Satz, 1. Teil
Denn sie fürchteten sich
„Und dann kommt Ostern – einfach entsetzlich!“ So hatte die Frau in ihr Handy hineinge-sprochen. Und sie hatte Recht. Ostern ist tatsächlich ein „entsetzliches“ Fest. Genauer ge-sagt: Ostern ist ein Fest, das Entsetzen auslöst. Das hält der Evangelist Markus in seinem Bericht von der Auferstehung Jesu unmissverständlich fest. Zu Beginn des 16. Kapitels heißt es:
1 Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben.
2 Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging.
3 Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?
4 Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß.
5 Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich.
6 Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten.
7 Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.
8 Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.
So berichtet es der Evangelist Markus. Maria von Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome werden Zeuginnen von Ostern. Sie sehen: Das Grab ist leer. Und sie hören die Botschaft des Engels: „Jesus ist auferstanden! Er lebt!“ Daraufhin packt sie das Entsetzen.
Erschrecken und Nicht-Verstehen
Was bedeutet es eigentlich, entsetzt zu sein? Für mich selbst heißt es: Ich bin entsetzt, wenn zwei Dinge zusammenkommen: Ich erschrecke und ich verstehe nicht. Wenn ich etwas lese, sehe oder höre, das mich entsetzt, dann zucke ich innerlich oder auch äußerlich zusammen. Ich erschrecke. Und zugleich schüttele ich darüber den Kopf. Denn das, was ich da gelesen, gesehen oder gehört habe, verstehe ich nicht. Es passt nicht in meine Sicht der Dinge. Es passt nicht in mein Bild von der Welt oder von den Menschen. Es sprengt alle meine bisherigen Vorstellungen, alle meine Erwartungen und Erfahrungen. Wenn ich entsetzt bin, kommen Erschrecken und Nicht-Verstehen-Können zusammen.
Ich war entsetzt, als mir zu Beginn des Jahres die Mutter einer ehemaligen Konfirmandin am Telefon mit tränenerstickter Stimme sagte: „Meine Tochter hat sich das Leben genommen.“ Da war ich zutiefst erschrocken und ich konnte es einfach nicht verstehen: Warum hat sie das getan? Sie war doch meist fröhlich und hatte Freunde. Und wenn es einen Grund gab, den wir nicht wissen: Warum hat sie sich niemandem anvertraut? Man hätte doch sicher eine Lösung finden können.
Ich war auch entsetzt, als ich vor fast genau drei Jahren die ersten Bilder vom Krieg in der Ukraine in den Nachrichten gesehen habe. Da war ich erschrocken über Hass und Gewalt und ich konnte einfach nicht verstehen, dass Krieg hier bei uns in Europa im 21. Jahrhundert überhaupt noch möglich sein sollte. Auch nach der Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021 war ich entsetzt. Ich war erschrocken über die zerstörerische Kraft der Natur und über das Ausmaß der Zerstörung und ich konnte nicht verstehen, wie schnell das alles gegangen war. Warum hatte es niemand hatte kommen sehen? Die Konfrontation mit einem grausamen Tod, die Konfrontation mit Krieg und Gewalt und mit Naturkatastrophen haben in mir Entsetzen ausgelöst. Worüber waren Sie zuletzt oder überhaupt einmal entsetzt? Wann ka-men bei Ihnen Erschrecken und Nicht-Verstehen-Können zusammen?
Musik: Johann Sebastian Bach, 4. Arioso (Duett) „Mein/Kein Auge sieht den Heiland auferweckt“ (BWV 66)
Ostern - Ein Ereignis, das Entsetzen auslöst
Tod, Naturkatastrophen, Krieg und Gewalt haben bei mir schon für Entsetzen gesorgt. Vielleicht auch bei Ihnen. Wenn der Evangelist Markus vom Entsetzen der Menschen berichtet, geht es allerdings um andere Ereignisse. Noch nicht einmal im Zusammenhang mit der Kreuzigung Jesu taucht bei ihm das Wort „Entsetzen“ auf. Für Markus ist vielmehr Jesus selbst das Ereignis, das Entsetzen hervorruft – genauer gesagt das, was er sagt und tut. In Jesu Nähe, durch ihn und an ihm geschehen Dinge, die die Menschen bis dahin für unmöglich gehalten haben. Dinge, die sie sich nicht erklären können. Dinge, die ihre Sicht der Welt vollkommen auf den Kopf stellen. Jesus lehrt mit einer Vollmacht, die nicht von dieser Welt ist. Und die Menschen entsetzen sich. (Markus 1,22) Jesus geht über das Wasser. Und die Menschen entsetzen sich. (Markus 6,51) Jesus heilt Menschen, die als unheilbar gelten. Und die Menschen entsetzen sich. (Markus 9,15) Und schließlich: Jesus bleibt nicht im Grab. Er bleibt nicht im Tod. Er lebt. Und die Menschen entsetzen sich. (Markus 16,5) Die Frau hatte wirklich Recht, als sie in ihr Handy sprach: „Und dann kommt Ostern – einfach entsetzlich!“ Denn Ostern ist kein harmloses Fest, sondern ein Ereignis, das Entsetzen auslöst.
Das leere Grab
Die ersten, die dieses Entsetzen am eigenen Leib erfahren, sind die drei Frauen, von denen der Evangelist Markus erzählt: Maria von Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome. Sie machen sich frühmorgens auf den Weg zum Grab. Sie wollen den Körper des toten Jesu salben. Sie wollen ihm etwas von jener Liebe zurückgeben, die er ihnen zu seinen Lebzeiten geschenkt hat. Als die drei sehen, dass der Stein vom Grab weggewälzt ist, sind sie noch nicht entsetzt. Erst nachdem sie in das Grab hineingegangen sind, sind sie es. Sie sind jedoch weniger über den entsetzt, den sie dort sehen: einen Jüngling im weißen Gewand, einen Engel. Engelerscheinungen sind in den Erzählungen der Bibel kein Grund zum Entsetzen. Engel werfen das damalige Weltbild nicht über den Haufen. Die drei Frauen sind viel mehr über den entsetzt, den sie im Grab nicht sehen: Jesus bzw. dessen Leichnam.
Die Botschaft des Engels, die Osterbotschaft ist es, die bei den Frauen Entsetzen hervorruft. Er sagt: „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten? Er ist nicht hier. Er ist auferstanden. Er lebt.“ Zwar fügt der Engel noch hinzu: „Entsetzt euch nicht!“ Aber so kann angesichts der Auferstehung Jesu auch nur ein Engel reden. Einer, der gut reden hat, weil seine Welt durch dieses Ereignis nicht bis in die Grundfesten hinein erschüttert wird. Für den Engel mag alles klar sein. Er versteht. Aber die drei Frauen sind zu Recht entsetzt und verlassen daher Hals über Kopf den Ort, der ihre Welt gerade ins Wanken gebracht hat.
Neues Leben ist möglich
Fast wünsche ich mir, dass die Osterbotschaft auch in mir Entsetzen auslösen würde – so wie damals bei den drei Frauen. Denn das, was da geschehen ist, passt doch auch nicht in meine Sicht auf die Welt: Da ist einer von den Toten auferstanden. Da hat einer den Tod überwunden. Das passt nicht zu meinem aufgeklärten Verstand. Das sprengt alle geltenden Naturgesetze. Ich wünsche mir, ich wäre wirklich ergriffen von dem, was an jenem Ostermorgen an Weltbewegendem und Weltveränderndem geschehen ist: Gott durchbricht die Endgültigkeit des Todes. Gott setzt einen „Doppelpunkt“ nach dem Tod und sagt zu ihm: „Du bist nicht das Ende! Neues Leben ist möglich!“
Fast wünsche ich mir, dass die Osterbotschaft auch in mir Entsetzen auslösen würde – so wie damals bei den drei Frauen. Aber Ostern ist für mich gerade nicht entsetzlich, sondern im Gegenteil: Ostern ist schön. Ich genieße die ausgelassene Stimmung dieses Festes. Ich erfreue mich am Jubel der Osterlieder und stimme fröhlich in sie ein. Ich höre und erwidere gern den alten Ostergruß: „Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!“ Und das ist viel. Aber manchmal ist mir das nicht genug. Manchmal möchte ich mehr. Da möchte ich wirklich ergriffen werden von dem, was da geschehen ist. Aber vielleicht müsste ich dazu an Ostern an einen anderen Ort gehen als gewöhnlich. Vielleicht müsste ich dazu dahin gehen, wohin die Frauen damals gegangen sind: an ein Grab. An einen Ort, an dem die Macht des Todes mit Händen zu greifen ist. An das Grab eines geliebten Menschen oder an das Grab unerfüllter Lebenswünsche. Um dort ergriffen zu werden vom Leben. Um zu spüren: Neues Leben ist möglich.
Musik: Johann Sebastian Bach, 5. Arie (Duett) „Ich furchte zwar/nicht des Grabes Finsternissen“ BWV 66
Aus Furcht wird Verständnis
„Und die Frauen gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.“ So schreibt der Evangelist Markus am Ende seines Berichtes von der Auferstehung Jesu. Mit diesen Worten endete ursprünglich das gesamte Evangelium – mit Schweigen und mit Furcht. Doch wenig später sagte man sich: „Mit Schweigen und mit Furcht kann ein Evangelium doch nicht enden! Die Botschaft von Jesus Christus ist doch eine frohe Botschaft!“ Und so fügte man dem Markusevangelium noch einige Verse hinzu, nämlich eine Zusammenfassung der Ostergeschichten der anderen Evangelien.
Das ist nicht das Ende
Für mich hätte das Markusevangelium diesen Zusatz nicht gebraucht. Wenn die Frauen angesichts dessen, was an jenem Ostermorgen geschehen ist, tatsächlich entsetzt waren, dann konnte der Evangelist Markus sein Evangelium getrost mit Schweigen und mit Furcht enden lassen. Denn er konnte sich sicher sein: Das ist nicht das Ende. Irgendwann werden die Frauen ihre Sprache wiederfinden. Irgendwann wird sich ihre Erstarrung lösen. Irgendwann werden sie in Bewegung kommen. Denn sie sind ja entsetzt. Und das bedeutet doch nichts anderes als: Sie sind nicht mehr festgesetzt. Sie sind nicht mehr festgesetzt in ihrer Traurigkeit. Sie sind nicht mehr festgesetzt in ihrer beschränkten Sicht der Dinge, in ihrer einseitigen Deutung der Ereignisse der letzten Tage. Sondern sie sind freigesetzt.
Und daher werden sie irgendwann in Bewegung kommen, weil sie verstanden haben: Neues Leben ist tatsächlich möglich. Und dann werden sie dem Auftrag des Engels Folge leisten. Sie werden zu den Jüngern gehen und ihnen davon erzählen, was sie erlebt haben. Und dann werden sie zusammen mit den Jüngern nach Galiläa gehen und den auferstandenen Jesus mit eigenen Augen sehen. Irgendwann wird das so sein. Darauf hat sich der Evangelist Markus verlassen. Und genau so war es dann auch.
Musik: Johann Sebastian Bach, 3. Arie „Lasset dem höchsten ein Danklied erschallen“ (BWV 66)
In Bewegung kommen
Entsetzt sein. Das bedeutet: nicht mehr festgesetzt sein. Das bedeutet: freigesetzt sein. Als ich diesen Zusammenhang begriffen habe, wurde mir klar: Ostern packt mich doch mehr, als ich dachte. Es packt mich doch mehr österliches Entsetzen, als ich bislang vermutet habe. Es packt mich immer dann, wenn ich in Bewegung komme, weil ich spüre: Neues Leben ist möglich.
Es packt mich immer dann, wenn ich aufbreche. Wenn ich aus vorgefassten Meinungen aufbreche und es wage, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Wenn ich aus eingefahrenen Verhaltensweisen aufbreche und den Mut habe, Dinge einfach einmal anders zu machen – oder überhaupt nicht. Es packt mich, wenn ich zu neuen Ufern oder zu längst vergessenen Träumen aufbreche. Wenn ich zu einem anderen Menschen aufbreche, von dem mich ein Missverständnis oder eine Schuld trennt.
Und nicht zuletzt: Es packt mich, wenn ich zu Gott aufbreche – in jedem Moment, in dem ich mit ihm und seiner todüberwindenden und lebensschaffenden Macht rechne.“
„Und dann kommt Ostern – einfach entsetzlich!“ So hatte jene Frau in ihr Handy hineingesprochen. Nun ist Ostern da. Ob es für die Frau tatsächlich ein „entsetzliches“ Fest geworden ist – wegen stressiger Vorbereitungen, wegen ungelöster Familienprobleme oder vor lauter Langeweile? Ich hoffe nicht. Stattdessen wünsche ich jener Frau, dass sie an diesem Fest wirklich entsetzt ist. Dass Ostern sie packt und freisetzt, damit sie in Bewegung kommt und neues Leben in sich spürt. Und das wünsche ich uns auch.
Musik: Johann Sebastian Bach, 1. Chor „Erfreut euch, ihr Herzen“ (BWV 66)