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Der Fluss und das Weizenkorn: Bilder der Hoffnung

Dr. Peter Kohlgraf
Ein Beitrag von Dr. Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz
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Vor gut acht Jahren bin ich vom Domkapitel in Mainz zum Bischof gewählt worden. Bei Bischofswahlen geht es nicht so geheimnisvoll zu, wie es etwa im Film „Konklave“ im Hinblick auf die Papstwahl gezeigt wird. Aber für mich kann ich sagen: Ich wusste nichts davon, dass ich auf einer Liste stand, die der Papst an das Mainzer Domkapitel übermittelt hatte.

Wie soll mein Bischofswappen aussehen?

Nachdem ich von der Wahl erfahren und meine Zustimmung gegeben hatte, tauchte unter anderem die Frage auf: Wie will ich mein Bischofswappen gestalten? In meinem Leben habe ich mir über solche Fragen bis zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken gemacht. Nach einigen Diskussionen habe ich dann den Fluss ins Wappen genommen. Zunächst habe ich dabei an den Rhein gedacht, denn ich bin in Köln geboren, habe in Bonn studiert und gearbeitet. Dann bin ich nach Mainz gekommen, das am Rhein liegt, wie auch etliche hessische Regionen des Bistums.

Meine Kernaufgabe: Hoffnung verkünden

Wenn ich in die Bibel schaue, dann steht der Fluss dort auch immer für die Hoffnung auf ein Leben in Fülle. Das passt gut zu mir, denn ich sehe es als meine Kernaufgabe an, die Hoffnung auf Leben und Zukunft zu verkünden, dafür steht mein christlicher Glaube. Das Wappen mit dem Bild des Flusses darin sollte etwas von meinem Glauben und meiner Lebenseinstellung wiedergeben.

Hoffnung in der Bibel

In der Bibel gibt es einen wirklich österlichen Text, der von großer Hoffnung spricht. Darin spielt ebenfalls ein Fluss eine große Rolle. Der Text steht im Buch des Propheten Ezechiel. Zunächst wird in einer katastrophalen politischen Situation vom neuen Tempel in Jerusalem gesprochen, nachdem der alte zerstört war.

Aus dem neuen Tempel entspringt eine Quelle, die zu einem großen Fluss wird. In seinem Verlauf wird der Fluss immer größer. An seinen Ufern wachsen Pflanzen, Leben kann gedeihen. Wo Gott wirken kann, entsteht Leben, das ist die große Hoffnung dieses Textes. Heute, am Osterfest, lese ich einen solchen Text im Blick auf die Situation unserer Welt. Kriege und Konflikte finden kein dauerhaftes Ende. Hass, Gewalt, Profitgier und Egoismus sind Kennzeichen unserer Zeit. Es war und ist aber Teil der biblischen Hoffnung, dass es nicht diese, sondern andere Lebenshaltungen sind, die die Welt wirklich prägen können.

Der Prophet Ezechiel und die Hoffnung

Der Prophet Ezechiel schenkt eine Vision, in der Gott selbst die Welt zum Guten verwandeln kann, zu einer Welt des Friedens und einer Zukunft für alle Menschen. Immer wieder muss ich mir Naivität vorwerfen lassen, wenn ich auf derartige Zukunftsvisionen des Lebens verweise und darauf baue. Inzwischen lasse ich mir das manchmal gerne vorwerfen. Als der Prophet seine Vision entwirft, lebt er nicht in einer heilen Welt, er sitzt inmitten der Trümmern seines Glaubens und den Ruinen der Stätten seines Volkes.

Und dennoch gibt er die Hoffnung auf Gottes Möglichkeiten, neues Leben zu schaffen, nicht auf. Gott setzt dann immer wieder auf Menschen, die diese Vision von einem guten und menschenwürdigen Leben teilen und in die Tat umsetzen. Was wäre denn nicht naiv? Dass wir am Ende nur auf Gewalt und Vergeltung setzen? Auf menschliche Stärke? Ich tue mich schwer damit, mir eine solche Welt zu wünschen. Der Prophet Ezechiel entwirft ein österliches, lebensfrohes Bild: Wo Gott wirkt, kann Hoffnung wachsen, da entspringt und fließt neues Leben.

Musik 1: Antoine Oomen (*1945) „Die Steppe wird blühen“ aus: „Sei hier zugegen. 10 Lieder von Huub Oosterhuis“ [11] 4:04 mit: Schola der Kleinen Kirche Osnabrück, Ltg. Ansgar Schönecker, Studio Orchester Amsterdam, Ltg. Tom Löwenthal.

Ein Weizenkorn als Wappenbild für Jesus?

Über ein Bischofswappen brauchte sich Jesus keine Gedanken zu machen. Aber er hat immer wieder in starken Bildern versucht, sein Leben und sein Selbstverständnis zu beschreiben. Im Johannesevangelium findet sich ein Beispiel dafür. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ (Johannes-Evangelium 12,24).

So deutet Jesus selbst seinen bald kommenden gewaltsamen Tod. Dieses kleine Weizenkorn wäre ein mögliches Wappenbild für Jesus gewesen. Leben gewinnt Jesus für sich und für die vielen Menschen, indem er sein Leben hingibt. In den neutestamentlichen Schriften spürt man noch die Erschütterung der frühchristlichen Gemeinden.

Wie kann es sein, dass der Messias leiden und sterben muss? Und dazu diesen schrecklichen Tod am Kreuz, in dem sich Sterben und Folter auf brutale Weise verbinden? Man spürt die Erschütterung, wenn der Evangelist Matthäus etwa von Finsternis und Erdbeben zur Todesstunde Jesu erzählt, davon, dass der Vorhang im Tempel entzweireißt und die Toten aus den Gräbern kommen (vgl. Matthäus-Evangelium 27,45-56).

Der Evangelist Johannes wählt leisere Töne. Das Sterben und das Wachsen des Weizenkorns ist ein unauffälliges Bild, um den Kreuzestod Jesu deuten zu können und ihm einen tiefen Sinn für Menschen zu geben, die versuchen, in seiner Nachfolge zu leben. Jesus sieht einen Sinn in seinem Sterben, auch wenn er angstvoll und nach Gott rufend in den Tod geht.

Beides findet sich in der Bibel. Jesus schreit: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Aber er ruft Gott eben auch als liebenden Vater an, der an seiner Seite bleibt: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist!“ Das ist schon enorm viel, seinen Tod nicht als blindes, vernichtendes Schicksal zu sehen.

Das Weizenkorn in Trauergottesdiensten

Nicht umsonst wird dieser biblische Satz über das Weizenkorn von vielen Menschen auch für Trauergottesdienste verwendet. Der Mensch ist sterblich, aber viele Bilder aus der Natur weisen darauf hin: Die Vergänglichkeit ist ein notwendiger Schritt, um neues Leben finden zu können. Dem Weizenkorn in seiner Kleinheit und Armseligkeit sieht man seine Wachstumskraft nicht an, man zertrampelt es, man übersieht es. So wie Jesus darf auch ich mein Leben und meine Vergänglichkeit gläubig deuten. Das Osterfest feiert den Sieg des Lebens über den Tod, den Sieg der Hoffnung über jede Hoffnungslosigkeit der Menschen. Das Leben wird am Ende siegen. Das Vertrauen auf Gott ist die Quelle meiner Hoffnung.

Musik 2: Jan Vermulst (1925-1994): „Wer leben will wie Gott“ aus: „Huub Oosterhuis, Gesammelte Gesänge“ CD 2 [3] 2:38 mit: Schola der Kleinen Kirche Osnabrück, Ltg. Ansgar Schönecker.

Aus der Vergänglichkeit wird Leben

Das kleine Weizenkorn fällt in die Erde, es stirbt – und bringt gerade dadurch neue, reiche Frucht. In dem Bild aus der Bibel geht es nicht nur um Jesu Sterben. Sein ganzes Leben entspricht bereits dieser Bewegung, sich wegzuschenken. Das Bild des kleinen Korns steht für die Hingabe, die Jesus gelebt hat und zu der er Menschen ruft.

In Jesus offenbart sich Gott selbst, und er tut es nicht in Glanz und Macht, sondern in Armut und Schwäche. Der Tod Jesu am Kreuz ist nichts anderes als die Konsequenz seines Lebens. Er versucht nicht, sich zu finden, indem er um sich und seine menschliche Existenz kreist und sich gegenüber anderen groß macht, sondern er verwirklicht sich selbst, indem er keine Angst davor hat, sich hinzuschenken.

Worin suche ich meine Selbsverwirklichung?

Die Nachfolge Jesus mündet dann in die Frage: Worin suche ich meine Selbstverwirklichung? Wenn ich das Bild des Weizenkorns auf meine gesamte Lebenshaltung beziehe, dann müsste diese Lebenshaltung etwas von dieser Sorglosigkeit widerspiegeln, die keine Angst davor hat, sich zu verlieren, wenn sie schenkt.

Welch ein Kontrast ist diese Lebenshaltung der Demut und Hingabe zur Haltung der mächtigen Männer unserer Zeit, die ihre Muskeln spielen lassen und Freude daran haben, andere klein zu halten. Jesus hat einen anderen Weg gewählt. Als gläubiger Mensch bin ich überzeugt: Er hat die Welt mehr verändert als alle Mächtigen und Gewalttätigen seither. Er lädt mich ein, in sein Lebenskonzept einzusteigen.

Das Weizenkorn, das in die Erde fällt und sich verschenkt, wird Frucht bringen. Ich frage mich immer wieder: Was sind die Früchte meines Lebens, wenn ich einmal gehen werde? Jesus ist überzeugt, dass sein Leben und Sterben für andere fruchtbar geworden ist. Christinnen und Christen formulieren: Jesus nimmt die Menschen mit in die Herrlichkeit des Vaters, sie sind hineingenommen in seinen Tod und in seine Auferstehung. Nicht selten wünschen wir uns auch für uns selbst, dass unser Leben in irgendeiner Weise für andere fruchtbar wird. Nach dem Wort Jesu erreichen dies nur die Menschen, die sich wegschenken können. Narzisstinnen und Narzissten hinterlassen keine Frucht für andere.

Das Weizenkorn verbildlicht Jesus

Ich feiere dieses Ostern in einer Welt, in der scheinbar die narzisstisch und selbstdarstellerisch veranlagten Personen die Oberhand gewinnen. Ostern gibt eine andere Vision vor. Menschliche Selbstdarstellung wird in sich zusammenfallen, Narzissmus wird als Blendung entlarvt werden. Wenn selbst der Tod nicht gewinnt, dann erst recht nicht die kleinen Menschen, die sich so großmachen.

Im Bild des Weizenkorns spiegelt sich die ganze Person Jesu wider. Mit welchem Bild würden andere Menschen mein Leben beschreiben? Wenn ich so wie das Weizenkorn leben und sterben könnte, wäre das eine gute Summe meines Lebens. Das Osterfest ist eine Einladung, darauf zu bauen: Am Ende setzt sich das Leben durch und trägt Früchte, das ich für andere eingesetzt habe.

Musik 3: Johann Hermann Schein (1586-1630): „Die mit Tränen säen“, aus: Schein, Israelis Brünnlein [3] 3:16 mit: Ensemble Vocal Européen, Ltg. Philippe Herreweghe.

Das Weizenkorn: Ein Zeichen für ein Leben nach dem Tod

Das Bild vom Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt und doch weiterlebt: Es beschreibt eine starke Hoffnung über den leiblichen Tod hinaus. So wie Jesus darf ich auch mein Leben und meine Vergänglichkeit gläubig deuten. Gott hat in mich ein Potential hineingelegt, das mir sagt: Ich werde über den Tod hinaus leben, aber verwandelt.

Wie ein Leben nach dem leiblichen Tod sein wird, weiß ich nicht, aber die Bibel beschreibt es mit Bildern von Leben in Fülle. Dieses ewige Leben ist unvorstellbar, unbeschreiblich. Aber ich glaube daran, dass es Wirklichkeit ist. Jedes Mal, wenn wir einen Menschen in die Erde senken, tun es Christinnen und Christen in der Hoffnung, dass unser Leben neu wird, dass ungeahntes und wunderbares daraus entstehen kann.

Der Apostel Paulus greift das Bild vom Korn, das gesät wird, im 1. Korintherbrief ebenfalls auf: „Was gesät wird, ist armselig, was auferweckt wird, herrlich. Was gesät wird, ist schwach, was auferweckt wird, ist stark […] Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ (1 Korinther 15,43.55).

Das Leben wird siegen

Jesus deutet seinen Tod als einen notwendigen Schritt, um neues Leben zu finden. Und dennoch bleibt die Erfahrung, dass der Tod einen radikalen Bruch und Einschnitt bedeutet. Am Ende aber wird das Leben siegen. Das Osterfest feiert diesen Glauben. Wenn ich dies heute bekenne, werde ich auch in diesem Zusammenhang den Vorwurf der Naivität hören – dann bin ich gerne naiv.

An wie vielen Gräbern habe ich mit den Verstorbenen gesprochen, weil ich überzeugt bin, dass sie leben – in einer Art und Weise, die ich nicht beschreiben kann und die doch Wirklichkeit ist. In jedem Gottesdienst verbinden sich Himmel und Erde – die Lebenden und die Verstorbenen, weil Gott ein Gott der Lebenden und nicht der Toten ist. In diesem Glauben feiere ich Ostern.

Das Gleichnis vom Weizenkorn ist auch heute aktuell

Das Gleichnis vom Weizenkorn, das in die Erde fällt, stirbt und so reiche Frucht bringen kann, ist ein leiser, aber hochaktueller und hoffnungsvoller Text in dieser Zeit. Siegerinnen und Sieger der Geschichte sind nicht die Starken und Lauten, sondern diejenigen, die den Mut haben, sich für andere einzusetzen. Siegerinnen und Sieger sind nicht die Selbstbezogenen, sondern diejenigen, die etwas geben wollen.

Nicht diejenigen bestimmen, die auf Kosten anderer leben wollen, sondern die Frucht bringen wollen für das Leben anderer Menschen. Die Früchte, die ich in der Beziehung zu Jesus bringen will, sind Früchte, die über meinen leiblichen Tod hinausreichen. In seiner Freundschaft bin ich berufen, ewig zu leben. „Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Johannes-Evangelium 12,24)

Musik 4: Johann Sebastian Bach (1685-1750): „Sinfonia“ aus „Oster-Oratorium“ BWV 249 – Bach, Easter Oratorio [1] 4:01 The Amsterdam Baroque Orchestra, Ltg. Ton Koopman.

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