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Heile Welt?!
Bild: Pixabay

Heile Welt?!

Cäcilia Hickl
Ein Beitrag von Cäcilia Hickl, Pastoralreferentin, Katholische Pfarrei St. Nikolaus, Rodgau
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Jedes Jahr schreibe ich im Advent viele Karten mit Weihnachtsgrüßen. Dieses Jahr hab ich ein ganz besonderes Motiv für meine Weihnachtskarten ausgewählt. Ich hab es schon im Frühjahr in einem Klosterladen entdeckt – und es hat mich so fasziniert, dass ich es mir gleich für die Weihnachtspost gemerkt habe. Normalerweise bestelle ich immer verschiedene Karten, diesmal gibt’s nur dieses eine Kartenmotiv. 

Warum ein Fussball in der Hand?

Das Bild auf der Karte ist schon 1989 entstanden, die Künstlerin Beate Heinen hat es gemalt und ihm den Titel gegeben: „Christ, der Retter ist da“. Es zeigt die Heilige Familie, Maria, Josef und das Jesuskind. Und es ist wirklich ein Kind, kein Jesus-Baby, sondern vielleicht 8 Jahre alt. Alle drei tragen stilisierte Kronen. Sie sind einander zugewandt, und zwischen sich halten sie eine Weltkugel in Händen. Das ist gewöhnlich und ungewöhnlich zugleich. In der christlichen Ikonographie gibt es viele Bilder und Figuren von Maria und dem Kind, auf denen Jesus die Welt in den Händen hält. Die Welt ist meistens schön rund und hat beste Ballgröße, so dass, wenn ich eine Kirche mit Kindern besichtige, hin und wieder die Frage aufkommt: Warum hat Jesus denn da einen Fußball in der Hand? Das kann bei diesem modernen Bild nicht passieren. Deutlich ist zu erkennen, dass es um den Planeten Erde geht. Man sieht blaue Meere und grünbraune Landmassen, kann sogar die Kontinente erkennen. Ganz klar, gemeint ist unser aller gemeinsame Heimat.

Die Welt hat einen Knacks

An dieser Erde auf dem Bild von Beate Heinen ist aber etwas besonders, erschreckend besonders. Die Welt hat große rote Risse und lauter kleine schwarze Sprünge. Gräben tun sich auf, quer über Meere und Kontinente.

Von 1989 ist dieses Bild, ob vor oder nach dem Mauerfall, weiß ich gar nicht. Aber leider spielt das auch kaum eine Rolle. Dass sich in unserer Welt Risse und Gräben auftun, das stimmt heute noch genauso wie vor 35 Jahren. Auch heute, auch gerade jetzt leben Menschen im Unfrieden, im Krieg mit ihren Nachbarn. Die Brüche verlaufen entlang von nationalen oder ethnischen Grenzen, manchmal auch zwischen Menschen mit unterschiedlichem Bildungshintergrund und finanzieller Situation, verschiedener politischer oder religiöser Überzeugung. Manche Risse und Brüche reichen bis in unsere Familien hinein. Es gibt heute bestimmt einige Menschen, die dem Verwandtenbesuch an Weihnachten mit Sorge entgegensehen: Hoffentlich spricht am Tisch niemand über Politik, hoffentlich bringt niemand das Thema seiner oder ihrer gescheiterten Ehe aufs Tapet, hoffentlich bleibt alles harmonisch. Gerade heute, am Fest der Liebe, da soll es am liebsten keine Risse geben in der heilen Welt, die wir uns wünschen.

Hochglanz oder Lack ab?

Weihnachten, das Fest der Liebe. Die Erwartungen sind oft riesig, alles soll perfekt sein, von der Deko übers Essen bis zur glücklichen Familie. Bei der Heiligen Familie sieht es schließlich in vielen Krippendarstellungen so einfach aus. Da ist die hübsche junge Frau, bei der auch nach der Geburt weder Haar noch Schleier verrutscht sind. Der große, schlanke, aber doch stattliche Mann mit Bart, der die Laterne hochhält, damit alle das perfekte, friedlich schlafende Kind in der Krippe anschauen können. Und der flauschige Esel und der brave Ochse, die es total normal finden, dass in ihrem Futtertrog ein Kind schläft. Über dem Dach der Stern oder wahlweise der Engel, der den himmlischen Gesang beisteuert. Oft ist das der Inbegriff des friedlichen, lieblichen, harmonischen Weihnachtsfestes. 

Die Welt mit Rissen und Gräben

Auch ich hab mich so an diese Krippenidylle gewöhnt, dass ich kaum Fragen stelle nach den realistischen Verhältnissen damals: Wie kalt war es wohl damals im Stall von Betlehem? Hat es womöglich gestunken? Bestimmt hatte Maria Angst vor einer Geburt zwischen Esel und Kuhmist. Vielleicht hat Joseph sich Vorwürfe gemacht, weil sie in einem Stall gelandet sind und nichts Besseres gefunden haben. Und wie anstrengend war vermutlich der Weg nach Betlehem – rund 150 Kilometer zu Fuß mit einer hochschwangeren Frau, durch besetztes Gebiet, vorbei an Militärposten, nur weil der Kaiser im fernen Rom mehr Geld und deshalb neue Steuerlisten braucht.

Die Welt war damals genauso wenig heil, wie sie es heute ist. Nicht für Maria und Joseph, und auch nicht für die abgerissenen Männer draußen auf dem Feld, die auf die Schafe und Ziegen anderer Leute aufgepasst haben, die unterste Etage auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft – die Hirten auf den Feldern von Betlehem. Das ist der Ausgangspunkt, die Welt, in die das Kind Jesus geboren wird. Die Welt mit Rissen und Gräben. So, wie sie auch auf meinen Weihnachtskarten zu sehen ist.

Ein klarer Blick

Als ich diese Weihnachtskarte das erste Mal gesehen habe, hab ich gar nicht zuerst die brüchige Erdkugel gesehen, in den Händen von Jesus, Maria und Josef. Mein Blick ist an einer Stelle weiter oben hängengeblieben, am Gesicht des Kindes. Aufmerksam betrachtet es die Erde in den Händen seiner Familie. Unverwandt. Es sieht genau jeden Riss, jeden Kratzer, jeden Bruch. Es nimmt die Welt, so wie sie ist, nicht die polierte Hochglanzversion. Es verschließt die Augen nicht vor der Wirklichkeit.

Mensch Jesus

In diesem Blick liegt für mich die frohe Botschaft von Weihnachten. Das irdische Leben von Gottes Sohn beginnt nicht im Palast, nicht mit einem Paukenschlag und vor allem nicht perfekt. Wenn Gott Mensch wird, dann tut er es nicht in einer optimierten Blase, sondern ganz echt, in unserer Realität. Er will einer von uns werden, damit er wirklich bei uns sein kann, näher als je zuvor. Dazu nimmt er auch die unangenehmen Seiten des Erdenlebens in Kauf. Das Leben, das er führen wird, ist davon geprägt, dass er immer wieder aneckt, bei seiner Familie, in seinem Dorf, bei den Obrigkeiten in Religion und Gesellschaft. Am Ende ist er so unbequem, dass er von der römischen Besatzungsmacht hingerichtet wird, von seinen Freunden verraten und verkauft. Er hat die Realität, unsere Realität bis in ihre Abgründe erlebt und gekannt, er hat fast alles mitgemacht, was uns im Leben begegnet. Gerade deshalb ruht sein Blick auf dieser unserer Welt, mit all ihren Rissen und Gräben. Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlen mag, er behält sie in seinen Händen. Er kennt sie gut, er muss die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen.

Die Frohe Botschaft

Aber reicht das? Reicht das als Weihnachtsbotschaft? Gott sieht und kennt das Elend der Welt bis zu den Rissen in unseren Familien? Warum tut er denn nichts? Warum heilt er die Risse nicht? Generationen von Menschen haben sich diese Frage gestellt, Theologen und Theologinnen haben sie immer wieder erforscht, und sie haben auch viele Antworten gefunden – aber nicht die eine Antwort, die es wirklich erklärt. Und so bleibt auch für mich am Ende eine Spannung, wenn ich auf meine Weihnachtskarte schaue: eine Spannung zwischen dem Bild mit der gehaltenen, aber angeknacksten Welt und dem Titel „Christ, der Retter ist da“. Der Retter ist da, aber die Welt ist noch nicht gerettet. Sie bleibt angeknackst, sie bleibt gefährdet. In unseren Familien bleiben Risse und in unseren Herzen Verwundungen. Aber eines hat sich geändert. 

Das macht mir Mut

Ich bin mit den Brüchen in meinem Leben nicht mehr allein. Mich tröstet es zu wissen, dass das Kind im Stall einen Unterschied machen will. Es schaut mit menschlichen, mit liebevollen Augen auf mich und mein Leben, auch und gerade auf die Brüche. Das macht mir Mut: Auch ich kann versuchen, die Menschen um mich herum liebevoll anzuschauen. Vielleicht entdecke ich dann etwas Liebenswertes an meinem Gegenüber, jenseits von Familienstreit und verschiedenen Meinungen.

Und es fällt mir auch ein bisschen leichter, mich selbst mit Liebe anzuschauen, Geduld zu haben mit mir und den Dingen, die mir schwerfallen.

Gott zeigt an Weihnachten: Er findet uns Menschen großartig und gelungen. So gelungen, dass er selbst ein Mensch geworden ist. Das möchte ich nicht vergessen, ganz besonders heute am Weihnachtsfest.

 

 

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